Spurlos in der Nacht
er sie und betrat das Zimmer.
Der alte Mann saß in einem tiefen Sessel am Fenster. Er hatte den Kopf zurückgelegt. Sein Mund stand halb offen, seine Wangen waren eingefallen. «Guten Tag, Herr Wettergren», sagte Cato Isaksen.
Der Mann gab keine Antwort. Er sah gut aus, seine Haare waren schlohweiß. Die schmalen Hände ruhten auf den Armlehnen. Dünne blaulila Adern zogen sich unter der Haut wie Bänder dahin.
Cato Isaksen sagte noch einmal guten Tag. Der alte Mann räusperte sich vorsichtig und schaute aus seinen hellen Augen erstaunt zu ihm hoch. Dann drehte er sich fort und schaute aus dem Fenster.
Cato Isaksen setzte sich auf die Bettkante. Er dachte sofort, dass das nicht richtig sei, zu aufdringlich vielleicht, aber er blieb dann doch sitzen. Das Zimmer war gemütlich, mit alten Möbeln und Bildern. Auf dem Hochzeitsbild über dem Bett erkannte er Solveig Wettergren nicht auf Anhieb wieder. Die Frau dort war schlank und hatte ein schmales, schönes Gesicht. Er wusste jedoch, dass sie es war. Sie hielt einen großen Brautstrauß aus Nelken und Lilien in der Hand. Auf diesem Bild war Torstein Wettergren ein großer, eleganter dunkelhaariger Mann. Mit breiten Schultern und klarem humorvollem Blick.
«Ich bin gekommen, weil ich Ihre Hilfe brauche», sagte er vorsichtig. «Das ist sehr wichtig für einen Fall, an dem ich arbeite», fügte er hinzu. «Hätten Sie wohl die Güte, mir zu helfen?»
Der Mann reagierte nicht. Cato Isaksen sah ihn an und fragte sich, warum sie keine Kinder hatten. Ob sie sich vielleicht welche gewünscht hatten? Die Stille im Zimmer wurde von Schritten auf dem Flur und einer vor dem Haus vorüberfahrenden Straßenbahn durchbrochen.
Cato Isaksen beschloss, gleich zur Sache zu kommen. «Es geht um Solveig», sagte er. «Wie hat Ihre Frau Sie behandelt? Haben Sie eine gute Ehe geführt?»
Der Mann im Sessel bewegte sich nicht. Er starrte den Ermittler hilflos an wie ein kleines Kind.
«War sie eine gute Ehefrau?»
Plötzlich zeigte sich auf der Hose des alten Mannes ein Fleck. Zugleich schluchzte er mehrmals tief auf. Cato Isaksen sprang erschrocken auf. Er hatte nicht mit einer dermaßen heftigen Reaktion gerechnet. Plötzlich nahm er die Angst und die Trauer des alten Mannes wahr. Was für ein Mensch war Solveig Wettergren denn eigentlich?
Cato Isaksen erkannte, dass er dem alten Mann nicht weiter zusetzen durfte. Der saß im Sessel und wartete. Sein Leben war zu Ende, jetzt blieben nur noch Reste übrig. Seine Zeit war vorüber. Torstein Wettergren konnte ihm keine einzige Antwort mehr geben.
Draußen auf dem Gang begegnete ihm die Pflegerin aus der Rezeption. «Sie suche ich gerade», sagte die. «Torstein Wettergren ist dement. Sie kommen mir fremd vor, stimmt das? Woher kennen Sie ihn?», fragte sie mit scharfer Stimme.
Cato Isaksen erklärte ihr kurz die Situation, erwähnte Solveig Wettergren aber nicht weiter. Und er entschuldigte sich für die Störung. Die Krankenpflegerin verzog besorgt das Gesicht. Als die Fahrstuhltür sich hinter ihm schloss, sah er noch, wie sie im Zimmer 305 verschwand.
57
Der Mann mit dem kleinen blauen Wagen sollte ihn auf einen neuen Gedanken bringen. Da es nicht weit bis Ulleval Hageby war, machte Cato Isaksen auf der Rückfahrt einen Abstecher dorthin. Als er den Deichplatz passierte und dann in die John-Colletts-Allee abbog, fiel ihm ein kleiner blauer Ford Fiesta auf, der gerade vor Nr. 51 hielt. Ein alter Mann mit einer in Alufolie eingewickelten Packung in der Hand stieg aus. Er öffnete das Tor und ging gebeugt über den Kiesweg. Der Garten war zweigeteilt. Rasen und Blumen links, Obstbäume, Beerensträucher und Gemüse rechts. Der alte Mann stellte das Essen auf die oberste Stufe der Steintreppe, drehte sich um und ging wieder auf das Tor zu.
Cato Isaksen hielt auf der anderen Straßenseite und stieg aus. Er schaute sich nach beiden Seiten um und überquerte die Straße. Der alte Mann machte sorgfältig das Tor hinter sich zu. Er sah überrascht auf, als der Ermittler sich vorstellte und bat, ihm ein paar Fragen stellen zu dürfen. Das sei kein Problem. Cato Isaksen schaute zu der Packung auf der Treppe hinüber und fragte, wie lange der alte Mann nun schon Essen ausfuhr. Der antwortete, dass er dabei half, die alten Leute im Stadtteil mit ihren Mahlzeiten zu versorgen. «Ich bin da nicht der Einzige, bei uns helfen viele mit», sagte er. «Obwohl wir selbst alt sind.»
«Aber Sie wissen, dass Brenda Moen tot
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