Spurlos in der Nacht
waren nicht immer in die Computer eingegeben. Er ließ einen Dienstanwärter die Kartothek nach dem Fall Wettergren durchsuchen. Eine Dreiviertelstunde darauf wurde vorsichtig an die Tür geklopft. Der junge Mann kam herein, derselbe, der nach der Ermordung von Brenda Moen mit am Tatort gewesen war. Cato Isaksen dankte ihm und nahm die Unterlagen gespannt entgegen. Der Kollege blieb immer noch stehen, doch nachdem Cato Isaksen sich ein weiteres Mal bedankt hatte, verließ er das Zimmer und zog die Tür leise hinter sich zu.
Cato Isaksen öffnete den Ordner und nahm die drei Unterlagen heraus. Rasch überflog er das Geschriebene. Es war eine ziemlich üble Geschichte gewesen. Jetzt wurden auch seine Erinnerungen daran immer deutlicher. Bertha Louise Kristiansen hatte die misshandelte alte Frau geheißen. Die Sache hatte damals großes Aufsehen erregt. In Radio und Fernsehen war heftig über die Situation von alten Leuten diskutiert worden. Der Ordner enthielt mehrere Zeitungsartikel und eine Kopie des Tonbandes, das der Sohn der Geschädigten aufgenommen hatte.
Cato Isaksen rief den Kollegen noch einmal an und bat um ein Tonbandgerät. Das war nicht ganz einfach aufzutreiben, aber endlich wurde doch ein kleiner schwarzer Apparat geliefert. Und die Szene wiederholte sich. Der junge Mann blieb abwartend stehen. Cato Isaksen musste ihn freundlich bitten zu gehen. Dann legte er das Band ein, ließ es zurückspulen und drückte auf «Play».
Er hörte zuerst ein Rauschen, dann sagte eine alte brüchige Stimme: «Etwas Wasser, bitte.»
Er erkannte Solveig Wettergrens scharfe Stimme sofort, als sie antwortete: «Jetzt hör endlich auf zu quengeln. Siehst du nicht, dass ich zu tun habe?»
«Es ist so heiß.»
«Halt die Klappe, klar? Oder soll ich dich wieder in den Arm kneifen?»
«Verzeihung ...»
«Ja, ja, du hast gut reden. Du glotzt den ganzen Tag vor dich hin, während ich wie eine Blöde hin und her rennen muss.»
«Aber ein halbes Glas ...»
«Jetzt hältst du die Fresse!» Schnelle Schritte, dann deutlich hörbare Schläge. Die alte Frau jammerte und bat um Erbarmen.
Diese Szene wiederholte sich noch einige Male, dann brach die alte Frau in verzweifeltes Weinen aus und rief nach ihrem Sohn. Ein lautes Klatschen war zu hören, dann wurde alles still.
Cato Isaksen las noch einmal den ärztlichen Befund: «Frau Kristiansens Hände und Arme sind übersät von Blutergüssen und blauen Flecken. Sie ist ganz einwandfrei misshandelt worden. Die Misshandlungen sind über einen längeren Zeitraum erfolgt, und wir haben auf der Station noch weitere entsprechende Fälle gefunden.»
Eine Psychopathin, dachte Cato Isaksen, eine Sadistin. War es möglich, dass Solveig Wettergren auf irgendeine Weise mit dem Mord an Brenda Moen zu tun hatte? Cato Isaksen spürte, wie ihm ein kalter Schauer den Rücken hochjagte. War das denn möglich? Aber wenn ja, warum? Er verfluchte sich, weil er nicht schon früher gründlicher ans Werk gegangen war. Was hatte sie noch über ihren Mann gesagt? Warum konnte sie ihn nicht zu Hause behalten? Vielleicht lag der Fall aber auch ganz anders, vielleicht konnte er es bei ihr zu Hause nicht aushalten? Der Ermittler verstaute Unterlagen und Tonband wieder im Ordner und verließ in aller Eile sein Büro. In welchem Pflegeheim Solveig Wettergrens Mann wohl untergebracht war? Gleich hier um die Ecke, hatte sie gesagt. Cato Isaksen beschloss, nach Vindern zu fahren und sich dort umzusehen.
Er hielt vor dem Vinderncenter, ging hinein und fragte die Verkäuferin am Zeitungskiosk nach dem Pflegeheim. Sie erklärte ihm den Weg, und bald stand er vor dem roten Steingebäude. Er ging durch die Glastür und betrat die kleine Rezeption. Und sofort hatte er Glück. «Aber sicher», sagte eine Pflegerin und schaute ihn neugierig an. «Torstein Wettergren, Zimmer 305.»
Cato Isaksen bedankte sich und fuhr mit dem Fahrstuhl in den dritten Stock. Die Pflegerin rief ihm etwas hinterher, aber darauf achtete er nicht. Er ging durch den langen hellen Gang. Es roch hier genauso wie im Frognerheim. Mit einem plötzlichen klaren Schmerz ging ihm auf, wie sehr seine Mutter ihm fehlte. Dieses Gefühl war überwältigend und überraschend. Sie fehlte ihm, weil sie seine einzige Verbindung zu seiner Kindheit war. Jetzt hatte er niemanden mehr. Er war ein Einzelkind und hatte keinen Kontakt zu irgendwelchen Verwandten.
Er ging zu der Tür mit der Nummer 305 und klopfte zweimal kurz an. Als keine Antwort kam, öffnete
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