Spurschaden
waren die Zwillinge? Lebten sie noch? Wann würde der Polizeihubschrauber endlich eintreffen, um die Suchaktion aus der Luft zu unterstützen?
Neben diesen Fragen stellte Marie sich eine andere selbst: Wann würde sie wieder in der Lage sein, aktiv mitzuhelfen?
Vor zwei Stunden war fast jeder Erwachsene aus dem Kloster der Suchmannschaft beigetreten. Vor zwei Stunden stand auch sie in voller Wintermontur im Hof; dann war sie zusammengebrochen. Ihre Beine hatten sie einfach im Stich gelassen. Sobald sie danach auch nur versuchte, wieder einen Fuß vor die Tür zu setzen, fingen die Krämpfe erneut an. Unkontrollierbare Zuckungen, die ihr bis heute völlig fremd gewesen waren.
Angstzustände, ja, die waren ihr nur zu gut bekannt. Aber dass die Beine ihr den Dienst komplett verweigerten, das war eine neue Erfahrung. Eine Erfahrung, die sie unendlich schmerzte. Ausgerechnet sie konnte sich nicht aktiv an der Suche beteiligen. War das der Teufel, der sie zurückhielt?
Wütend ballte sie ihre linke Hand zur Faust, und nur verschwommen nahm sie durch ihre mit Tränen gefüllten Augen die Fotos wahr. Weit verstreut lagen sie auf dem Boden – unter dem riesigen Schreibtisch. Die ausgedruckten Bilder der Überwachungskamera mussten ihr vor kurzem aus den Händen geglitten sein; vom Schoß gerutscht.
Langsam ließ Marie sich vor dem Stuhl nieder und nahm eine gebückte Haltung ein. Überraschend standfest kniete sie, schob die verstreuten Bilder zusammen. Gerade beugte sie sich weiter vor, um nach den restlichen unter dem Schreibtisch liegenden Ausdrucken zu greifen, als sie das Drücken des Türgriffs hörte und regelrecht erstarrte. Stille. Dann folgten Schritte. Wieder Stille.
Bevor die Novizin etwas sagen konnte, lugte bereits der Kopf des Kommissars unmittelbar gegenüber unter dem Schreibtisch hervor. Thomas Schlund schaute ihr sichtlich irritiert in die Augen.
»Die Bilder«, stammelte Marie.
»Warten Sie, ich helfe Ihnen!« Thomas kniete nieder und streckte sich nach den offenbar letzten beiden Ausdrucken, die zum Greifen nahe lagen.
»Ich hab sie!«, hörte er die Novizin flüstern und spürte für einen Sekundenbruchteil ihre feuchten Finger seine berühren.
Thomas zuckte innerlich zusammen. Ein seltsames Gefühl überkam ihn: Schwäche. Er hörte sich noch »Mir wird schwarz vor Augen« sagen und kippte dann – von seiner Knieposition ausgehend – langsam nach vorne über. Marie konnte ihn gerade noch rechtzeitig an den Schultern packen, sonst wäre er schutzlos auf den Boden geschlagen. Mit den Füßen schob sie sich gegen die rechte Seiteninnenwand des Schreibtischs, den schweren Oberkörper des Kommissars dabei stetig stützend. Schnell verloren ihre Arme an Kraft, und Thomas’ Kopf schlug erst sachte gegen ihr Kinn, um danach an ihrer rechten Brust entlang mittig in ihren Schoß zu rutschen.
Marie hauchte mehrmals ein »Hallo«, dann verstummte sie. Regelmäßig drückte der fremde Brustkorb gegen ihre Oberschenkel, hob und senkte sich. Schnell ging sein Atem.
Wie gelähmt kauerte sie unter dem Schreibtisch; ihre Sinne waren jedoch bis zum Äußersten geschärft. Jedes Geräusch, jede noch so kleine Bewegung nahm sie wahr. Das kurzzeitig blanke Entsetzen hatte sich schnell verflüchtigt. Erstaunt saß sie einfach nur da. Nie hätte sie das für möglich gehalten – noch nicht: Ein Männerkopf lag in ihrem Schoß; die Wärme eines fremden Körpers drang in sie ein. Doch da war keine Angst, kein Hass, kein Ekel. Vielmehr eine heilende Energie, die jede ihrer Zellen erfasste und ihr Gefühle schenkte, die sie längst vergessen hatte. Unbewusst strich sie mit der linken Hand durch das dichte Haar des Kommissars. Ein Klopfen an der Tür und das anschließende Öffnen derselben ließen sie wieder verharren. Mit angehaltenem Atem lauschte sie, bildete sich den suchenden Blick einer Person ein, hörte »Da ist keiner!« und dann das Schließen der Tür.
Sekunden später registrierte sie eine Bewegung. Thomas Schlund stützte sich vom Boden ab und hob vorsichtig seinen Kopf.
»Danke!«, sprach er noch leicht benommen. »Komisch, so was ist mir das letzte Mal als Messdiener passiert. Ist bei Ihnen alles O.K.?«
»Ja«, stieß Marie verlegen aus und ärgerte sich innerlich, dass ihr nicht mehr dazu einfiel.
»Kommen Sie, ich helfe Ihnen hoch.« Während Marie sich noch wunderte, wie schnell der Kommissar plötzlich vor dem Schreibtisch stand, streckte er ihr bereits seine große Hand entgegen. Marie
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