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Spurschaden

Spurschaden

Titel: Spurschaden Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Simon Halo
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verschiedener Filter schärfte die Konturen des Gemäldes. Erst jetzt konnte er es deutlicher erkennen: Es war auf Holz aufgetragen worden, ganz nach der Art von Hieronymus Bosch. Bis hin zur Mitte, von der rechten Seite her, war das Bild heller, was aber anscheinend mit der Aufnahme zusammenhing. Derjenige, der es abfotografiert hatte, musste dies unter schlechten Lichtverhältnissen getan haben. Ein Blitzlicht oder eine sonstige künstliche Lichtquelle hatte offenbar nicht zur Verfügung gestanden.
    Die eigentliche Bildqualität wurde auch dadurch getrübt, dass der Fotograf die Aufnahme entweder mit unruhiger Hand oder aus einer Bewegung heraus geschossen hatte – diese Unschärfe ließ sich nur befriedigend korrigieren. Für eine erste Interpretation stellte dies allerdings kein Problem dar. Einzig der linke Teil verschwand zu sehr im Dunklen. Hier müssten noch weitere Filter angewendet werden. Doch jetzt wollte Thomas zunächst die Details näher ergründen, die deutlich sichtbar waren.
    Eine Kurzbeschreibung zum Bild hatte er bereits im Quelltext der Seite gefunden: Zwillinge, Eisblock, Täuschung. Diese drei Wörter standen fein säuberlich an genau der Stelle des HTML-Codes, wo sie hingehörten. Und nur deshalb war die Seite von der Suchmaschine in den Index aufgenommen worden, nur deshalb war sie überhaupt auffindbar. Dass der Titel-Tag auch genutzt wurde, fiel Thomas selbst dann noch nicht auf, als er die Seite seinen Bookmarks hinzufügte – zu sehr konzentrierte er sich auf die verschiedenen Bildelemente:
    Die größte Fläche wurde von einem Kreis eingenommen, der unmissverständlich die Erde darstellen sollte. Genau mittig angeordnet stieß diese links an ein aus dem Bildrand ragendes nacktes weibliches Wesen. Dessen übergroßen Brüste wurden von der Erdkugel regelrecht eingedrückt, was durchaus eine erotische Wirkung erzielte – trotz des verschwommenen Gesichts dieses Geschöpfs, das jegliche Individualität vermissen ließ. Die Art und Weise der Unkenntlichmachung sah allerdings vom Künstler gewollt aus. Es machte nicht den Anschein, als ob erst nachträglich Details entfernt worden waren.
    Der linke Arm verschwand hinter dem Erdball, der rechte umklammerte die Erde außen anliegend, so dass diese auch gleichzeitig gestützt wurde. Das, was Thomas gleich zu Beginn fasziniert hatte, war die rechte Hand des Wesens, besser gesagt, das, was eine Hand darstellen sollte – eine Handinnen- oder Außenfläche war nicht vorhanden. Direkt aus dem Unterarm ragten gebogene Stäbe heraus, die einem scharfkantigen Rechen ähnelten und sich von der rechten Bildseite ausgehend tief in die obere Erdkruste gruben. Das All – die restliche außenliegende Fläche – wurde größtenteils vom langen schwarzen Haar der offenbar weiblichen Gottheit gefüllt. Und wäre da nicht der mittelalterliche Malstil gewesen, aus dem Wesen wäre eine moderne Comicfigur geworden.
    Ja, Thomas dachte kurz an eine Frau mit Superkräften. Dieser Eindruck wurde von einem am Rücken angedeuteten Strahlenkranz zusätzlich gestärkt – eine Art Sonne schien aus dem unteren Rückgratbereich.
    Thomas beugte sich vor, näher an den Monitor. »Streng jugendgefährdend!«, flüsterte er und meinte damit nicht die außerhalb der Erdkugel liegende Darstellung. Das, was ihn erschauern ließ, war das abartige Geschehen, das sich in der Bildmitte, innerhalb des Kreises abspielte. »Die Hölle«, dachte er. »Das muss die Hölle sein!«
    Im oberen Bereich standen erwachsene nackte Menschen. Nebeneinander und hintereinander bildeten sie unzählige Reihen. An vorderster Front konnte Thomas erstaunliche Details erkennen: Der Künstler hatte jeden der etwa einhundert Menschen ganz individuell gestaltet. Kein Gesicht glich dem anderen, jeder Körper war einzigartig: dünne Menschen, dicke Menschen, schmale Menschen, breite Menschen, kleine Menschen, große Menschen, helle Menschen, dunkle Menschen. Sie alle waren bis zur kleinsten Hautfalte dargestellt. Doch nur in der ersten Reihe – dahinter verschwanden die ausdrucksstarken Details zunehmend.
    In den Gesichtern der Menschen lag alles andere als Scham wegen ihrer Nacktheit. Lüstern und boshaft grinsend schienen die Meisten den Betrachter regelrecht anzugaffen. Nur einige Wenige schauten offenbar überrascht nach oben, in Richtung Himmel.
    Von der Bildmitte wurde dieses Geschehen durch eine Art riesigen Trichter getrennt, dessen Unterseite aus einer gezackten Spule bestand. »Eine

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