Spurschaden
mittelalterliche Erntemaschine«, sprach Thomas leise vor sich hin und vergrößerte einen Ausschnitt weiter rechts gelegen. Dort stand eine kleine Gestalt, die ganz offenbar an einem Rad drehte, das seitlich am Trichter befestigt war. Gekleidet war das kindliche Wesen mit einem hellen Gewand.
»Das gibt’s nicht!«, stieß Thomas aus, als er die betreffende Stelle noch weiter vergrößerte. »Wieder kein Gesicht!« Und tatsächlich. Anstelle eines Kopfes erstrahlte eine helle Lichtkugel, deren Weiß fließend in das des Gewands überging. Thomas dachte sofort an die Zwillinge, an die seltsam überstrahlten Bilder der Überwachungskamera. Er richtete nun seine Konzentration auf den unteren Teil der Erdkugel. Hier würde er eine weitere kleine Gestalt finden, davon war er fest überzeugt.
Und tatsächlich. Unverwechselbar das helle Gewand, identisch der überstrahlte Kopfbereich. Mit etwas gutem Willen wurden aus einem vorhandenen Pinselstrich sogar die zu einem Zopf geflochtenen Haare der vermissten Mädchen. Doch Thomas’ Begeisterung legte sich schnell. Die detektivische Spurenauswertung führte unweigerlich zu weiteren Details. Details, die ihn sichtlich irritierten. Die Interpretation der restlichen Darstellung ließ nämlich keine Zweifel zu: Nichts anderes als eine gewaltige Tötungsmaschine stellte der Trichter dar, der oberhalb die nackten Menschen aufnahm, um diese unten zerstückelt wieder auszuspucken. Darauf folgend wurde das Menschenmaterial offenbar weiterverarbeitet, von der Gestalt im hellen Gewand in würfelförmige Behältnisse verpackt.
»Eisblöcke«, dachte Thomas. Er lehnte sich auf seinem Schreibtischstuhl zurück, wollte einen größeren Abstand zwischen sich und den Monitor bringen. Das stetige Anstarren des Bildinhalts hatte ihn müde gemacht; er schloss die Augen. In Gedanken betrachtete er sich das Motiv jedoch weiter, nutzte sein fotografisches Gedächtnis. Dieses seltsame Geschehen ließ ihn einfach nicht los.
25
Der Minutenzeiger stand kurz hinter der Vier. Etliche Male war Thomas in der Nacht aufgeschreckt – jetzt war er endgültig wach. Hatte er bisher angenommen, dass der regelmäßig auftauchende Albtraum von einem langsam verfaulenden Fötus im Leib seiner Lebensgefährtin durch nichts mehr übertroffen werden könnte, so hatte er sich geirrt. Auch die Ängste – seinen Vater betreffend – waren nicht im Geringsten mit dem vergleichbar, was er diese Nacht hatte erleben müssen.
Thomas drehte die dimmbare Nachttischlampe heller und saß einfach nur da, die Wolldecke weit an sich gezogen, im Schneidersitz. Für gewöhnlich schlief er nackt. Wann er ins Bett gegangen war, daran konnte er sich nicht erinnern. Nur dass er seine Kleidung anbehalten hatte, das war ihm bereits in den kurzen Wachphasen zwischen den Albträumen aufgefallen. Dennoch hatte er jämmerlich gefroren und tat es immer noch. Mit den Händen stützte er seinen Körper – die harte Federkernmatratze bildete eine deutliche Mulde. Es fehlte das Gegengewicht; es fehlte die Frau an seiner Seite.
Noch lange Zeit verharrte Thomas in dieser Position auf dem Bett, schwankte leicht hin und her. Als Hüter des Gesetzes hatte er schon viel zu Gesicht bekommen. Eine Kleinstadt unterschied sich nur unwesentlich von einer Großmetropole. Einzig die Häufigkeit der Delikte schwankte zwischen wenig und kaum vorhanden. Blut und Gedärme sahen überall gleich aus, Gewöhnungssache – das menschliche Gedächtnis kennt die Notwendigkeit, zu vergessen. Die Bilder aus den Albträumen dieser Nacht ließen ihn allerdings nicht zur Ruhe kommen. Da half auch nicht der konzentrierte Blick auf das Ölgemälde an der Wand gegenüber – »Der Kuss«, von Gustav Klimt. Heute gelang es dem schwach golden glänzenden Bild nicht, Thomas’ Gefühlswelt zu beruhigen. Zum ersten Mal konnten die zwei sich auf der Leinwand so innig Umarmenden ihn nicht in die Welt der Liebe und Zärtlichkeit entführen. Es brauchte mehr als das.
Thomas dachte an die junge Novizin; an den Moment, als sein Kopf auf ihrem Schoß geruht und sie ihm sanft durchs Haar gestrichen hatte. Doch dann ergriffen wieder die schrecklichen Bilder aus den Albträumen der Nacht von ihm Besitz, rissen ihn in die tiefsten Abgründe menschlichen Empfindens.
Entschlossen ballte Thomas seine rechte Hand zur Faust. Wut und Angst wechselten sich stetig ab. Wie elektrisiert sprang er regelrecht aus dem Bett und weckte seinen Computer aus dem Standby-Betrieb. Sekunden später
Weitere Kostenlose Bücher