ST - TOS 101: Feuertaufe: McCoy - Die Herkunft der Schatten
hatte dazu geführt, dass Edith irgendwann unempfindlich gegen den Schmerz um sie herum geworden war. Andernfalls hätte sie wohl angesichts des täglichen Elends schnell den Verstand verloren. Natürlich waren ihr die Hilfsbedürftigen ebenso wichtig wie zuvor, doch um den Besuchern, die in die Mission kamen, angemessen helfen zu können, musste sie sich emotional von ihrer Not distanzieren. Dennoch rührte sie die Trauer, die sie in Leonard erkannte, fast zu Tränen.
»Leonard«, sagte sie und legte ihre Hand auf seine, die wiederum auf der Stuhllehne ruhte. »Mir ist klar, dass du ein Mann bist, der sich dazu entschließt, Menschen zu helfen. Und ich habe keine Zweifel, dass du das auch weiterhin tun wirst, egal wohin es dich verschlägt. Vielleicht wirst du sogar wieder als Arzt arbeiten. Aber ich weiß auch, dass die Zeit für dich gekommen ist, weiterzuziehen.«
»Wohin?«, fragte Leonard. »Ich habe wirklich keinen Ort, an den ich gehen könnte.«
»Warum gehst du nicht nach Hause?«
»Das würde ich liebend gern«, meinte er. »Wenn ich nur wüsste, wie ich dorthin komme.«
»Warum steigst du nicht einfach in einen Zug und fährst los?«, schlug Edith vor.
»Los?«, hakte Leonard nach. »Los wohin?«
»Nach Hause«, sagte Edith. »Nach Atlanta.«
»Atlanta«, wiederholte er, als käme ihm die Möglichkeit zum ersten Mal in den Sinn.
»Es könnte ein guter Ausgangspunkt sein«, meinte Edith.
Leonard starrte sie eine ganze Weile an, schien sie jedoch nicht zu sehen. Sie stellte sich vor, dass er sich Atlantas Skyline vor Augen rief. Sie war bei Weitem nicht so groß und beeindruckend wie die von New York, konnte aber auch mit einigen hohen Gebäuden aufwarten. Edith war nie in Atlanta gewesen, hatte aber darüber gelesen sowie Bilder in Zeitungen und Zeitschriften gesehen. Obwohl sie nicht wusste, was Leonard sich gerade vorstellte, hoffte sie, dass darin ein blauer Himmel und Pfirsichbäume vorkamen.
»Vielleicht wäre das ein guter Ort, um neu anzufangen«, sagte er schließlich. »Ich werde darüber nachdenken.« Er trat um den Stuhl auf sie zu und breitete die Arme aus. Sie umarmten sich, und er dankte ihr für das, was sie gerade gesagt hatte, und für ihre Freundschaft.
Edith wusste nicht, ob Leonard ihren Rat befolgen und die Mission verlassen würde, aber sie glaubte, dass die Möglichkeit durchaus bestand. Welche Geister der Vergangenheit ihn auch heimsuchten, er musste sie hinter sich lassen, und der beste Weg, das zu tun, begann damit, den Ort zu verlassen, der ihm in den letzten zwei Jahren als Zuflucht gedient hatte. Wenn Leonard ging, würde Edith ihn vermissen, das stand für sie fest. Doch sie wusste auch, dass sie sein Leben in dieser Nacht vielleicht ein zweites Mal gerettet hatte.
McCoy stand in einer Schlange aus unscheinbaren Männern in der Mission in der Einundzwanzigsten Straße und wartete darauf, dass er an der Reihe war, an den Tresen zu treten und einen Teller Suppe zu verlangen. Er fühlte sich fehl am Platz und unruhig, als gehöre er nicht an diesen Ort und ginge durch seine bloße Anwesenheit ein großes Risiko ein. Er sah sich um und stellte fest, dass die Tische und Stühle im Hauptraum der Mission verschwunden waren. Das Gleiche galt für die Wände. Der Fußboden erstreckte sich hingegen so weit er sehen konnte. Aus Neugier, wie das Stockwerk über ihm an Ort und Stelle bleiben konnte, hob er den Blick. Dort waren jedoch keine nackten Glühbirnen, die von einer schäbigen Decke baumelten, sondern eine kalte Unendlichkeit voller Sterne
.
Ich träume,
dachte er, und ihm wurde klar, dass es keine Rolle spielte
.
»Wir sind auf der Erde«, sagte der Mann direkt vor ihm. »Zumindest glaube ich, dass die Sternbilder darauf hinweisen.«
McCoy wandte den Blick vom Himmel ab und erkannte die Gestalt vor sich. Es handelte sich um den kleinen verwahrlosten Mann, dem er bei seiner Ankunft begegnet war. Er hatte seinen Phaser gestohlen und sich versehentlich selbst dematerialisiert. Er hatte sich dematerialisiert, dadurch den Lauf der Geschichte verändert und die Zukunft zerstört. »Was tun Sie hier?«, wollte McCoy wissen
.
»Sie haben recht, Kumpel«, sagte der kleine Mann und sah auf seine zerlumpte, unordentliche Kleidung hinab. Die anderen Männer in der Schlange – einschließlich McCoy selbst – trugen gepflegte, maßgeschneiderte Anzüge. »Ich gehöre hier nicht hin«, fuhr der Mann fort. Dann trat er aus der Reihe und schlich davon. McCoy beobachtete, wie er
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