Stachel der Erinnerung
noch eine Weile, sprachen von allerhand nebensächlichen
Dingen, davon, daß das Schiff, das ihn nach Portsmouth gebracht hatte, nach
zwei anstrengenden Jahren der französischen Blockade neu mit Kupfer beschlagen
werden mußte. Sie sprachen von seiner Reise nach Belmore, davon, daß er sofort
aus Portsmouth aufgebrochen war. Na ja, fast sofort. Matt machte sich nicht die
Mühe, seinem Vater von der kleinen Rothaarigen zu erzählen, die ihn in den
Nächten unterhalten hatte, während er in der emsigen Hafenstadt seine Geschäfte
erledigt hatte.
»Du hast
mich noch gar nicht nach Jessica gefragt«, meinte der Marquis nach einer Weile,
mit einem kleinen Vorwurf in der Stimme. »Du mußt doch aus meinen Briefen
wissen, daß sie hier ist.«
»Es hat
mehr als drei Monate gedauert, bis mich deine Briefe erreicht haben. Aber durch
den letzten habe ich erfahren, daß das Mädchen aus dem Internat zurück ist und
hier in Belmore bei dir lebt.«
Der Marquis
setzte sich in seinem Bett auf. Er wußte, daß dieses Thema seinem Sohn nicht
gefiel. Sie hatten sich bereits wegen Jessica gestritten, als Matthew das
letzte Mal zu Hause gewesen war.
»Ich weiß,
was du von dem Mädchen hältst. Das hast du mir überdeutlich klargemacht, bei
mehr als einer Gelegenheit. Aber du hast Jessica seit Jahren nicht mehr gesehen
– nicht mehr, seit sie ein eigensinniges Kind war. Und schon gar nicht, seit
ich sie unter meine Fittiche genommen habe. Sie ist jetzt eine Frau, Matthew
Eine feine, guterzogene, lebhafte junge Frau. Ich danke Gott jeden Tag, daß sie
zu mir gekommen ist, daß sie den Mut hatte, ihre Träume wahrmachen zu wollen
und daß sie mich davon überzeugt hat, ihr dabei zu helfen.«
Matt
kämpfte gegen eine aufsteigende Verärgerung an. »Wenn ich mich recht erinnere,
hat Jessie Fox noch nie der Mut gefehlt. Als Kind war sie nur wild. Sie ist von
einer Schwierigkeit in die andere gestolpert. Mit zwölf Jahren war sie eine
Gaunerin, eine Taschendiebin und eine Räuberin. Mit fünfzehn war sie ein
ungepflegtes, hinterhältiges kleines Biest, das all seine Tricks eingesetzt
hat, um dein Mitleid zu erregen und dich dazu zu bringen, sie bei dir
aufzunehmen.«
»Das
Mädchen kämpfte ums Überleben.«
»Und das
hat sie verdammt großartig hingekriegt. Mit ihren neunzehn Jahren hat Jessie Fox
die beste Erziehung genossen, die man für Geld kaufen kann. Sie hat ihren
eigenen Vierspänner und kleidet sich wie eine Königin. Sie lebt hier in
Belmore wie eine königliche Hoheit, und sie besitzt alles, was ihr verräterisches
kleines Herz sich nur wünschen könnte. Du wunderst dich, warum ich mich nicht
für Jessie Fox interessiere, Vater? Weil Jessie Fox meine Aufmerksamkeit nicht
nötig hat. Offensichtlich scheint sie äußerst erfolgreich für sich selbst
sorgen zu können!«
Der Marquis
schwieg, er sah Matt nur lange an. »Das klingt ja
geradeso, als wolltest du andeuten, daß Jessica mich manipuliert hat, all
diese Dinge für sie zu tun, daß sie mich in gewisser Weise ausgenutzt hätte. In
Wirklichkeit bin aber ich es, der davon profitiert hat.«
Diesmal
schwieg Matt. Er war nicht nach Belmore gekommen, um sich mit seinem Vater
über Jessie Fox zu streiten.
»Als dein
Bruder starb«, fuhr der alte Herr fort, »da war ich verzweifelt. Du warst nicht
da, und ich war ganz allein. Es war eine schreckliche Zeit für mich. Und als
ich glaubte, den Schmerz keinen Augenblick länger ertragen zu können, habe ich
meine Erinnerungen in Belmore Hall zurückgelassen und bin ins Herrenhaus nach
Seaton gezogen. Doch auch dort wurde es nicht besser. Ich war ein bitterer, einsamer
alter Mann, der nur noch auf sein Ende wartete.«
Heißes
Schuldgefühl stieg in Matt auf. »Das tut mir leid«, sagte er leise. »Ich hätte
bei dir sein sollen. Doch leider habe ich erst sechs Monate nach Richards Tod
erfahren, daß er gestorben war.«
»Es war
nicht dein Fehler, Sohn. Du warst genau dort, wo du hast sein müssen. Du hast
für dein Land gekämpft. Aber das hat es mir nicht leichter gemacht.« Der Hauch
eines Lächelns spielte um seinen Mund. »Und dann, an einem Tag, an dem ich ganz
besonders bedrückt war, habe ich glücklicherweise einen Spaziergang zum See
gemacht, und diese arme kleine Göre war auch da. Mein Leben bekam eine Wendung
zum Besseren im selben Augenblick, als ich Jessica traf.«
»Sie war
sicher ganz zufällig da, als du dort warst«, stellte Matt voller Sarkasmus
fest. »Es war reiner Zufall, daß ihr beide euch getroffen
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