Stachel der Erinnerung
angefleht aufzuhören. Doch nicht
Jessica Fox.
Matt
schubste sie wieder senkrecht, und sie kam stolpernd auf die Beine. Mit weit
aufgerissenen blauen Augen sah sie in sein Gesicht. Es verblüffte ihn, daß
Tränen darin glänzten.
»Du bist
ein schlimmes Mädchen, Jessie. Wenn du das nächste Mal Ärger machst, dann
denke an den Preis, den du heute dafür gezahlt hast. Wenn du dich nicht
änderst, dann wird dir das einmal sehr leid tun. Früher oder später wirst du
die Konsequenzen tragen müssen, und sie werden viel schlimmer sein als das,
was du eben erlebt hast.«
»Ihr werdet
derjenige sein, dem es leid tut.« Sie schniefte hinter der vorgehaltenen Hand.
Dann machte sie einen Schritt von ihm weg, ihre Unterlippe zitterte, eine Träne
rollte über ihre Wange. Zu seiner Überraschung sah er einen Ausdruck von
Schmerz in ihren Augen und brennende Erniedrigung. »Ich werde eine Lady sein –
eine richtige vornehme Lady, mit feinen Seidenkleidern und einem reichen,
gutaussehenden Mann, der mich überall herumführt. Euch werde ich es zeigen. Ich
werde schon einen Weg finden. Ich werde eine richtige Lady werden. Und dann –
verdammter Graf oder nicht – wird es Euch leid tun, daß Ihr mich so behandelt
habt.«
Matthew
schüttelte nur den Kopf. Mit einem letzten Blick auf das verwahrloste Kind
Jessie Fox wandte er sich ab. Den Anflug von schlechtem Gewissen schob er
schnell von sich. Er bedauerte es nicht, was er getan hatte, der Himmel allein
wußte, daß sie eine ordentliche Tracht Prügel verdient hatte. Vielleicht würde
es ja etwas nützen.
Doch die
Wahrscheinlichkeit war viel größer, daß Jessie ihre Diebereien und ihre Art,
anderen Ärger zu bereiten, nicht aufgeben würde und dafür eines Tages in
irgendeinem dunklen Gefängnis enden würde.
Oder noch
wahrscheinlicher, flach auf ihrem Rücken in einem der Zimmer über dem Black
Boar Inn, wo sie sich ihren Lebensunterhalt als Dirne verdiente – genau wie
ihre Mutter.
2
England, April 1805
»Du
meine Güte, Liebes,
er ist doch nicht der König von England.«
Jessies
Lippen verzogen sich zu einem kläglichen Lächeln. Sie wandte sich von den
duftigen Ballkleidern ab, die auf ihrem mit seidenen Laken bezogenen Bett
lagen. »Nein, das ist er wirklich nicht. Vielleicht würde ich mir nicht so
große Sorgen machen, was ich anziehen soll, wenn er wirklich der König wäre.«
»Du wirst
wunderschön aussehen, ganz gleich, welches Kleid du anziehst.« Viola Quinn, die
dralle, grauhaarige Frau, die Jessie schon seit ihrer Kindheit kannte, warf
ihr einen liebevollen Blick zu. »Es besteht viel eher die Möglichkeit, daß der
Kapitän so bezaubert ist von dir, daß er nicht einmal bemerkt, was du überhaupt
für ein Kleid trägst.«
Viola nahm
Jessie in den Arm. Sie war dem Mädchen in mütterlicher Liebe zugetan, mehr,
als ihre eigene Mutter es je gewesen war. »Danke, Vi. Du sagst immer das
Richtige.«
Viola
Quinn, einst Köchin im Black Boar Inn, war mit ihren fünfzig Jahren wohl kaum
eine rechte Kammerzofe, doch Jessie liebte sie. Und der alternde Marquis, der
jetzt Jessies Vormund war, hatte schließlich nachgegeben und Viola Quinn nach
Belmore Hall geholt.
Die
untersetzte Frau hob eines der Kleider vom Bett. »Wie wäre es mit dem
goldenen?« Es war eine glitzernde Schöpfung mit einem Mieder, das mit
Straßsteinen besetzt war. »Die Farbe paßt zu deinem Haar.«
Jessie
schüttelte den Kopf, und ihre langen goldenen Locken, von denen Vi gesprochen
hatte, flogen um ihren Kopf. »Viel zu förmlich. Graf Strickland ist zwei Jahre
lang auf See gewesen. Ich möchte, daß er sich heute abend wohl fühlt.«
Vi hob ein
anderes der eleganten Kleider hoch. »Was ist mit diesem hier aus
elfenbeinfarbenem Satin – es paßt perfekt zu deiner blassen, pfirsichfarbenen
Haut.«
Jessie biß
sich auf die Unterlippe und betrachtete den schicklichen Ausschnitt und die
schlicht geschnittenen Ärmel. »Zu schlicht. Ich möchte nicht, daß er denkt, ich
sei ein Mauerblümchen.«
Viola
seufzte. »Und wie ist es mit diesem hier?« Sie hielt ein kostbares, modisches
blaues Seidenkleid hoch, mit hoher Taille und einem zurückhaltend
ausgeschnittenen Mieder. »Es ist vom gleichen Blau wie deine Augen, und die
silbernen Fäden im Überrock geben ihm ein wundervolles Glänzen.«
Jessie
lächelte. Sie nahm das Kleid und lief durch das Zimmer zu dem verzierten
Drehspiegel neben dem Fenster. Dort hielt sie das Kleid vor die Brust und
betrachtete sich von allen Seiten.
»Du
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