Stachel der Erinnerung
zufügen, als ich es schon getan
habe.«
Vi stemmte
ihren schweren Körper im Bett auf. »Hattest du etwa die Absicht, mich
hierzulassen? Du wolltest ganz allein losziehen mit der Kleinen?« Sie brummte
unwillig und begann, sich anzuziehen.
»Du
brauchst hier nicht weg, Vi. Der Marquis wird für dich sorgen. Du wirst immer
einen Platz haben in Belmore.«
»Mein Platz
ist bei dir. Ich liebe dich wie die Tochter, die ich nie hatte. Und die kleine
Sarah braucht mich.«
»Oh, Vi
...« Jessie sank in die Arme der mütterlichen Freundin. »Ich liebe dich. Wenn
du wirklich mitkommen willst – es gibt niemanden, den ich lieber bei mir hätte
als dich.«
»Und wo
willst du hin?«
Jessie
griff nun nach Sarah. »Wo immer das nächste Schiff hinsegelt, das aus London
abfährt. Ich habe ein bißchen Geld gespart, genug, um die Schiffspassage
bezahlen zu können.« Sie hob Sarah aus dem Bett, die unwillig murmelte, als sie
langsam wach wurde.
»Ich ziehe
das Kind an«, bot sich Vi an. »Tu du das, was du zu tun hast.«
Jessie
nickte. Sie warf Vi noch einen Blick zu, dann verließ sie das Zimmer. An der
Tür zum Zimmer ihres Mannes blieb sie stehen. Heute nacht hätten sie zusammen
geschlafen. Sie hätten einander herrlich und voller Leidenschaft geliebt und
wären dann in den Armen des anderen eingeschlafen. Sie hatte Matt Seaton
geliebt, solange sie denken konnte. Viele Jahre hatte sie davon geträumt, seine
Frau zu sein.
Immer hatte
sie ihre Träume gehabt. Immer. Sie hatten ihr durch schwere Zeiten geholfen,
wenn sie hungrig war, wenn sie fror und wenn sie sich verzweifelt einsam
fühlte.
Doch jetzt
hatte sie keine Träume mehr. Sie hatte entdeckt, daß es nichts als gefährliche
Illusionen gewesen waren.
Mit
feuchten Händen öffnete sie die Tür, dann betrat sie das Zimmer. An der Kommode
blieb sie stehen. Sie berührte einige von Matthews Sachen: einen Kamm mit einem
silbernen Rücken, einen kleinen ledergebundenen Gedichtband, eine Porzellanminiatur
seiner Mutter in einem Rahmen aus Elfenbein. Sie holte tief Luft, dabei stieg
ihr ein schwacher Duft seines Parfüms und der männliche Geruch nach Leder in
die Nase.
Ihr Hals
war wie zugeschnürt. Sie versuchte, sich sein Gesicht vorzustellen, und dachte
daran, wie leer ihr Leben ohne ihn sein würde. Ihr Herz war gebrochen. Sie
fühlte sich wie ein junger, nackter Vogel, der aus dem Nest gefallen war.
Sie zwang
ihre Füße weiterzugehen, hinüber zu dem Schreibtisch in der Ecke des Raumes.
Dort holte sie ein Blatt Papier aus einer der Schubladen, nahm einen Federkiel
und tauchte ihn in das Tintenfaß.
Mein
Liebling, Matthew, begann
sie zu schreiben, und bei jedem einzelnen Wort flossen ihr die Tränen über die
Wangen.
Matthew stieg aus der Mietkutsche, die er
und Eustace Bradford, einer der Kapitäne von Trafalgar, sich am Dock gemietet
hatten, sobald die Discovery im Hafen angelegt hatte. Drei weitere
Schiffskapitäne folgten ihnen in einer anderen Kutsche, alle konnten es kaum
erwarten, an der Siegesfeier teilzunehmen.
Matthew war
der ungeduldigste von allen. Wenigstens würde er jetzt seine geliebte Jessie
wiedersehen. Bei dem Gedanken klopfte sein Herz schneller. Er schmunzelte, als
er daran dachte, daß eine Frau so auf ihn wirken konnte, ganz besonders dieses
Energiebündel, das seit ihrer Kindheit alles daran gesetzt hatte, ihn zu
ärgern.
Aber
Tatsache war, daß sie ihm sein Herz gestohlen hatte, und jetzt, nachdem er das
auch vor sich selbst zugegeben hatte, fand er, daß er der glücklichste Mann auf
der Welt war.
Er hatte
die Tür des Pantheon schon fast erreicht, als ein Mann aus dem Schatten neben
der Tür trat.
»Matthew?«
Es war Adrian Kingsland. »Ich fürchte, ich muß mit Euch reden.«
Matt warf
einen sehnsüchtigen Blick zur Tür. »Geht schon vor, Kapitän Bradford«, forderte
er seinen Begleiter auf. »Ich komme sofort nach.« Er wandte sich um und sah
Wolvermont an. Doch was er im Gesicht des gutaussehenden Mannes las, machte ihm
angst. »Was ist los, Adrian? Was ist geschehen?«
Wolvermont
kratzte sich am Kopf. »Es hat sich ein Problem ergeben.«
Furcht
stieg in ihm auf. »Ist etwas mit Lady Strickland? Jessie ist doch nichts
geschehen?«
»Es geht
ihr gut, Matthew. Sie ist nicht verletzt oder krank ... so etwas ist es nicht,
aber ...«
»Wo ist
sie?« Er blickte zu dem hellerleuchteten Haus und machte dann einige Schritte
darauf zu, doch Wolvermont stellte sich ihm in den Weg.
»Eure Frau
ist nach Hause gegangen. Ich selbst
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