Stachel der Erinnerung
Vielleicht konnte sie dieser Umgebung
entkommen. Vielleicht ...
Jessie
seufzte, als sie die Becher mit Grog auf den Tisch vor die Männer stellte.
Auch Sarah
würde diesem Leben nicht entkommen. Sie alle würden das nicht schaffen.
Es war ein
Traum, den Jessie schon vor langer Zeit aufgegeben hatte.
»Hierher,
Mädchen«, brüllte einer der Seeleute. »Ich brauche dringend einen Becher Grog,
beeil dich!«
»Halt die
Füße still, Mann«, rief einer der Stammgäste, Jake Barley. »Siehst du nicht,
daß das Mädchen sich beeilt, so gut es kann?«
Jessie
schenkte ihm ein dankbares Lächeln und wandte sich dann wieder den Seeleuten
zu.
»Sie kann
mit ihrem hübschen Arsch hier herüberwackeln, sobald sie fertig ist«, grölte
ein muskulöser Ire, der ihm gegenübersaß, und schob seinen Stuhl zurück.
»Halt deine
dreckige Klappe«, warnte Sean Nolan. »Siehst du nicht, daß du mit einer Lady
sprichst?«
Der Mann
musterte sie eingehend, doch dann brummte er nur und zuckte die Schultern.
Eine Lady.
Das war sie wohl kaum. Und es war klar und deutlich, daß sie niemals eine sein
würde. Es überraschte sie jedoch, daß der Gedanke daran sie noch immer
beschäftigte.
Matthew
stand an der Reling des Briggschoners Windmere. Am nächsten Tag würden
sie in Charleston ankommen. Noch einen Tag war er von seinem Ziel entfernt. Es
war der längste Tag, an den er sich erinnern konnte.
Er
beschattete seine Augen mit der Hand vor der Sonne, blickte zur Küste von
Südcarolina hinüber und betete, daß er die Frau finden würde, nach der er
suchte. Er hatte drei Wochen gebraucht, das Schiff zu suchen, mit dem sie
geflüchtet war. Er mußte ganz sicher sein, daß es das richtige war. Denn wenn
er die falsche Auskunft erhielt, würde er Monate damit verschwenden, in die
verkehrte Richtung zu segeln. Und das würde bedeuten, daß er möglicherweise für
immer ihre Spur verlöre.
Am Ende
hatte er eine beträchtliche Belohnung ausgesetzt und damit Erfolg gehabt. Einer
der Arbeiter am Dock erinnerte sich daran, drei Frauen gesehen zu haben, die an
Bord der Gallant gegangen waren. Das Schiff war am nächsten Morgen nach
Amerika ausgelaufen. Der Mann war sogar in der Lage gewesen, sie ziemlich
genau zu beschreiben. Ein weiterer Mann bestätigte diesen Bericht, so daß Matt
von der Aussage überzeugt war.
Er war zwei
Tage später losgesegelt. Es war eine anstrengende Reise gewesen, die ewig zu
dauern schien. Jeden Tag hatte er sich die unzähligen Gefahren ausgemalt, denen
zwei alleinstehende Frauen mit einem Kind ausgesetzt waren. Jetzt starrte er
die Küste an und betete, daß Jessie in Sicherheit war.
Er grübelte
darüber nach, wo sie wohl sein könnte und ob sie ihn auch nur halb soviel
vermißte wie er sie.
Er betete,
daß Gott sein Flehen erhören und ihm helfen würde, sie zu finden. Er schwor
sich, nicht eher aufzugeben, als bis er sie in die Arme schließen konnte.
In ihrem winzigen Zimmerchen über dem Stall
beugte Jessie sich über das Kind mit dem goldenen Haar, das auf der
Strohmatratze schlief. Zärtlich strich sie ihm das seidige Haar aus dem
Gesicht. Sarah war heute abend sehr quengelig gewesen. Unentwegt hatte sie
nach Matthew gefragt, hatte wissen wollen,
warum ihr Papa nicht mit ihnen gekommen war. Jessie hatte ihr erzählt, daß er
sie hätte begleiten wollen, jedoch daß wichtige Dinge ihn in Belmore
zurückhielten.
Und Sarah
hatte gefragt, wer denn jetzt für sie sorgen würde.
Jessie war
keine Antwort darauf eingefallen. Sie wußte nur, daß sie etwas Besseres für
Sarah gewünscht hatte: ein Zuhause, eine Familie, eine Mutter und einen Vater,
die sie liebten. Sie hatte versucht, ihr eigenes Leben zu korrigieren, doch
jetzt putzte sie die Bierpfützen von den Tischen in einem verräucherten
Schankraum. Es war nicht fair. Aber, das hatte auch Wolvermont gesagt – das
Leben war nur sehr selten fair.
Wenigstens
war sie keine Dirne. Sie wußte, daß sie das niemals würde sein können. In ihrem
Herzen war sie nach wie vor Matthews Frau, und nichts würde das jemals ändern.
Was auch
immer geschah, was auch immer das Leben für sie bereithielt, sie würde so
leben, daß er sich niemals dafür schämen müßte, sie gekannt zu haben.
Matthew ging durch die Gassen der
Hafengegend von Charleston. Seine Schritte dröhnten auf den roh gezimmerten
Brettern, die man als Schutz gegen den Schlamm über die Straßen gelegt hatte.
Gestern war er an Bord der Windmere in der Stadt angekommen. Anderthalb
Tage hatte er
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