Stachel der Erinnerung
gebraucht, um sie zu finden – die Frau, die alle respektvoll Lady
Blue nannten.
Es war
eigenartig, wie der Name ihn angerührt hatte. Es war eine Mischung von
Schuldgefühlen und dem Schmerz, den er ihr bereitet hatte, und gleichzeitig die
Freude, daß ihre intensive Liebe so tief war wie die Liebe, die er für sie
verspürte.
Doch jetzt
rang er mit sich, was er ihr sagen sollte. Tausend Wörter spukten durch seinen
Kopf, doch keines davon schien den Verlust ausdrücken zu können, den er gefühlt
hatte, seit seine geliebte Frau ihn verlassen hatte.
Die
richtigen Worte werden von ganz allein kommen, beruhigte Matthew sich
energisch. Diesmal würde er sie aussprechen.
An der Tür
des Red Horse Inn blieb er stehen. Sein Herz schlug wie ein Schmiedehammer in
seiner Brust. Sein Mund war ausgetrocknet. Er atmete tief durch, wischte seine
feuchten Hände an der Hose ab und öffnete die Tür zu dem verräucherten
Schankraum.
Jessie wrang den Lappen mit der
Seifenlauge aus, mit dem sie die Holztische im Schankraum abwusch. Dann verzog
sie das Gesicht, weil die Seife in ihre rauhen, geröteten Hände biß. Es war
früher Nachmittag. An einem Tisch saß eine Gruppe von Seeleuten der Windmere, die gerade aus England gekommen war. Sie amüsierten sich bei einem
spannenden Kartenspiel.
Jessie
zwang sich, nicht zu ihnen hinüberzusehen, nicht zu ihnen zu gehen und jeden
einzelnen nach Neuigkeiten aus ihrer Heimat auszufragen. Der Wunsch war fast
übermächtig. Lieber Gott, sie wäre schon glücklich, nur ihrer Sprache lauschen
zu können.
Statt
dessen beugte sie sich über den Tisch und rubbelte noch heftiger. Sie
versuchte, die peinigenden Erinnerungen zu verdrängen und die Gruppe der
Seeleute zu ignorieren. Doch es schien ihr so unmöglich wie nicht zu atmen.
Jessie
tauchte den Lappen wieder ins Wasser, wrang ihn aus und wischte über den
Ecktisch. Einige Strähnen ihres blonden Haares hatten sich unter dem Tuch
gelöst, das sie um ihren Kopf gebunden hatte. Sie kitzelten sie an der Wange.
Ungeduldig schob sie die Haarsträhnen wieder unter das Tuch und machte sich
erneut an die Arbeit. Sie bemerkte kaum die Schritte hinter sich, und als
jemand hinter ihr stehenblieb, arbeitete sie gedankenverloren weiter. Erst,
als sich eine feste Hand mit dunklen, gebräunten Fingern auf die ihre legte, hielt
sie erschrocken inne.
»Eine
ziemlich niedrige Arbeit, nicht wahr, mein Liebling? Für eine Gräfin ...?«
Die Hand
über ihrer bebte leicht, und Jessie zuckte hoch. Sie konnte es nicht fassen,
konnte es nicht glauben. Diese tiefe, vertraute Stimme war ... war ...
»Matthew ...!« Verstört betrachtete sie sein geliebtes, markant geschnittenes
Gesicht, und alles in ihrem
Inneren verkrampfte sich und ermahnte sie, daß sie ihn wegschicken mußte. »Du
hättest nicht kommen dürfen«, brachte sie krächzend heraus.
Seine
tiefblauen Augen wanderten über ihr Gesicht. Zärtlich hob er ihre von der
Arbeit rauh gewordenen Hände und preßte sie an seine Lippen. »Du bist meine
Frau, Jess. Hast du wirklich geglaubt, ich würde dich einfach gehen lassen?«
Sie
blinzelte und kämpfte mit den Tränen. Lieber Gott, sie liebte ihn so sehr. »Ich
... ich habe dir doch einen Brief geschrieben.«
»Ja ... du
schienst der Meinung zu sein, das würde genügen.« Ihr Atem kam gequält und
stoßweise. »Alles, was du tun mußt, ist ...«
»Alles, was
ich tun muß, ist, meine Ehe annullieren zu lassen. Stimmt das, Liebling?«
Der Schmerz
schnürte ihr die Kehle zu. »Das ist richtig.« Sie vermied es, ihn anzusehen. So
schaffte sie es, wie unbeteiligt weiterzureden. »Du brauchst keine
Schuldgefühle zu haben. Nichts von alldem war dein Fehler. Ich habe dich durch
einen Trick dazu gebracht, mich zu heiraten. In dieser Nacht ... in dem Gasthof
... alles, was du damals getan hast, war, mich zu küssen. Mehr ist nicht
passiert. Ich ... ich habe dich angelogen.«
Sie hatte
geglaubt, daß er zornig werden würde. Doch die tiefen Linien um seinen Mund
entspannten sich. »Warum?« fragte er leise.
Sie starrte
ihn mit diesen himmlischen blauen Augen an. »Weil ich dich geliebt habe.«
»Tust du
das noch immer?«
Sie
schluckte schwer. Trotz ihrer guten Vorsätze wollte sie nicht lügen. »Ja ...«
Matthew
antwortete nicht, er blinzelte nur und sah zur Seite. »Du hast eine Lady
verdient, Matthew. Eine wirkliche, echte Lady und keine Betrügerin wie mich.« Ihre
Stimme brach.
Er wandte
sich ihr wieder voll zu, ein kleiner Muskel in seiner Wange
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