Stadt Aus Blut
sind.
Jorges Atem wird flacher. Seine Lippen öffnen sich und entblößen ein zahnfleischloses Gebiss. Pfeifend entweicht die Luft durch seine Kehle. Daniel beugt sich vor und flüstert ihm etwas ins Ohr. Scheiße, sieht so aus, als würde Jorge hier und jetzt abkratzen. Ich will aufstehen und den Raum verlassen, aber Daniel bedeutet mir, mich wieder hinzusetzen. Ich will das nicht sehen, aber in Daniels Haus tut man, was Daniel einem sagt.
Jorges Rücken krümmt sich. Seine Finger krallen sich in die Bambusmatte und zerkrümeln die dünnen Stängel. Daniel liegt jetzt neben ihm, den Körper an Jorge gepresst, und flüstert ununterbrochen so eine Art Singsang. Jorge gibt knackende Laute von sich, als würde etwas in ihm zerbrechen und das Krachen durch seine Speiseröhre hervordringen. Er reißt die Augen auf. Dicker, weißer Eiter fließt aus den Augenhöhlen. Das Krachen wird lauter. Seine Haut bewegt sich, als würden Käfer und Schlangen darunter umherwuseln. Er öffnet den Mund, schließt ihn wieder. Seine Zähne schnappen ins Leere. Der weiße Eiter läuft ihm das Gesicht herunter. Eines der hervorstehenden Augen hüpft aus seiner Höhle und hängt an einem Wangenknochen. Sein Kopf schlägt hart auf den Boden.
– Hilf mir, Simon.
Ich bleibe sitzen.
– Hilf mir.
Ich krieche hinüber und packe Jorges zitternde Beine. Ich will sie festhalten, aber er tritt mich beiseite.
– Halt ihn fest, Simon.
Ich packe die Beine erneut und drücke sie mit aller Kraft auf den Boden. Jorge ist so kräftig, dass ich mich auf ihn draufsetzen muss. Inzwischen hat Daniel seine Arme um Jorges Oberkörper geschlungen. Jorges anderes Auge ist ebenfalls aus seiner Höhle gesprungen. Beide schwingen jetzt an den Nervensträngen und Adern hin und her. Er bäumt sich mit aller Kraft auf, einmal, zweimal. Jedes Mal, wenn sein Rücken wieder auf den Boden kracht, höre ich Knochen brechen. Es klingt, als würde er seine Lunge auskotzen. Noch einmal durchfährt ihn ein Krampf, so heftig, dass er mich und Daniel abwirft. Dann ist es vorbei. Er liegt still da und ist kaum noch als menschliches Wesen erkennbar. Daniel steht auf und will mich hochziehen, aber ich beachte seine Hand nicht.
– Vielen Dank, Simon.
Ich starre auf das, was von Jorge übrig ist.
– Jemand hat mein Blut gestohlen, Daniel. Alles.
Er lacht leise.
– Also wenn du zum Essen hier bist, muss ich dich leider enttäuschen.
Die Enklave glaubt nicht an das Vyrus. Oder, anders gesagt: Sie glaubt zwar daran, hält es aber nicht für ein natürliches Phänomen. Jedenfalls nicht für ein materielles. Oder so ähnlich.
Soweit ich begriffen habe, glauben sie, dass das Vyrus übernatürlichen Ursprungs ist. Ihnen zufolge gibt es ein ganzes übernatürliches Universum. Und sie fürchten, dass man in die übernatürliche Welt übertritt und dabei sein Selbst verliert, wenn man komplett vom Vyrus beherrscht wird. Das wollen sie vermeiden, indem sie sich ganz langsam zu Tode zu hungern und dabei Bewusstsein und Persönlichkeit behalten. Wenn man das geschafft hat, wird man ein übernatürliches Wesen, das in dieser unserer Welt existiert. Was daran so toll sein soll, ist mir schleierhaft, aber sie selbst sind von dieser Idee sehr angetan. Natürlich enden sie alle so wie Jorge. Schon seit Jahrhunderten. Alle, bis auf Daniel.
Wir sitzen am Fuß der Treppe und beobachten die Enklave bei ihren Übungen. Es ist so eine Art Tai-Chi, aber so langsam und präzise, dass man die Bewegungen kaum erkennen kann.
Jorges Leiche haben sie mit ausgestreckten Armen und Beinen an die Betonwand genagelt. Ich bemerke, dass auch Daniel ihn anstarrt.
– Wir lassen ihn so lange hängen, bis sein Fleisch verwest ist und die Knochen herunterfallen. Er soll uns daran erinnern, dass wir die physische Welt überwinden wollen. Wir meditieren über seinen Verfall.
Das hier könnte auch meine Welt sein. Ich hätte mich diesen Irren anschließen können und würde jetzt mein Leben damit verbringen, langsam zu sterben. Als ich die Society verließ, hat mich Daniel zu sich eingeladen. Ich war ihm noch nie vorher begegnet und hatte auch nichts mit der Enklave zu tun. Aber wenn man als unabhängiger Vampyr überleben will, braucht man Verbündete. Damals dachte ich, er braucht einen Laufburschen oder einen Mann fürs Grobe. Ich hatte ja keine Ahnung. Er lud mich ein, Mitglied in der Enklave zu werden. Das war sehr schmeichelhaft, genauso, als würde einen die verrückteste, härteste Gang der
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