Stadt Aus Blut
unterwegs. Wieder im Burnus. Diesmal habe ich einen Taxiservice angerufen und einen Wagen mit getönten Scheiben bestellt. Ich sitze auf der Rückbank und rutsche hin und her, je nachdem, wie die Sonne gerade auf das Auto fällt. Die Tönung hält die langwelligen UV-Strahlen ab, aber die kurzen, die so richtig wehtun, kommen trotzdem durch. Ich steige an der Ecke Little West 12th und Washington aus und lege den Rest des Wegs im Schatten der Gebäude zurück.
Die Lagerhalle der Enklave sieht wie jede andere in der Umgebung aus. Außer, dass sie nicht mit Graffiti überzogen ist und auch sonst keine Spuren der Verwüstung erkennen lässt. Die Vandalen wissen zwar nicht, wer in der Halle wohnt, aber das Böse darin können sie spüren. Ich gehe die Laderampe hoch und schiebe die riesige Stahltür auf. Die Enklave braucht nicht abzusperren. Niemand ist so blöd, bei ihnen einzubrechen.
Ich schiebe die Tür hinter mir zu. Es ist dunkel, sehr dunkel. Gut. Ich nehme die Sonnenbrille ab.
– Simon.
Ich drehe mich um. Vor mir steht der Typ von letzter Nacht. Glaube ich zumindest.
– Ich dachte, du wolltest das lassen?
Er lächelt.
– Verzeihung. Aber du bist so viel mehr ein Simon als ein Joe. Es ist so passend.
– Bring mich einfach zu Daniel, ja?
– Natürlich.
Wir durchqueren die riesige Lagerhalle. Langsam kann ich Einzelheiten am anderen Ende ausmachen: Sie wirken wie eine Armee von Gipsstatuen. Die Enklave. Es müssen fast alle von ihnen sein, vielleicht hundert – der gefürchtetste aller Clans. Sie sitzen mit überkreuzten Beinen auf dem Boden, völlig bewegungslos. Ihre Kleidung ist so bleich wie ihre Haut. Mein Begleiter führt mich mitten durch sie hindurch. Die in den hinteren Reihen haben noch etwas Farbe im Gesicht und ein bisschen Fleisch auf den Knochen, aber je weiter wir an die Spitze der Versammlung kommen, desto bleicher und ausgezehrter werden sie. Ungefähr in der Mitte der Reihen setzt sich mein Führer auf einen freien Platz. Ich bleibe stehen, aber er schüttelt den Kopf und deutet nach vorne.
Dort sitzt eine einsame Gestalt. Sie hat mir den Rücken zugewandt und schaut in die gleiche Richtung wie die anderen. Ich warte. Einen Augenblick später wendet die Gestalt den Kopf und sieht mich an. Sie lächelt und deutet auf meinen weißen Burnus.
– Simon. Wie nett, dass du dich passend angezogen hast.
Daniel sieht aus wie der leibhaftige Tod. Genau so, wie man sich den Sensenmann vorstellt, wenn er irgendwann auf deiner Bettkante sitzt, komplett mit Sense und einer Liste, auf der in Blut dein Name steht. Knochenweiße, haarlose Haut spannt sich über das Skelett darunter. Warum er so aussieht? Weil er stirbt. Deswegen sind sie alle hier: um sich langsam zu Tode zu hungern.
Daniel führt mich die Treppe zu einer weitläufigen Etage an der Hinterseite der Lagerhalle hinauf. Trotz seiner mageren Erscheinung nimmt er die Stufen mit federnden Schritten und kaum gezügelter Energie. Entlang des Korridors befinden sich Reihen von kleinen würfelförmigen Räumen. In jedem von ihnen ist eine einfache Matte und ein Wasserkrug. Ich folge Daniel in einen der Würfel. Ein Mitglied der Enklave liegt dort auf der Matte. Er zittert und schwitzt und sieht fast so fertig aus wie Daniel, der ihm zunickt.
– Er scheidet von uns.
Ach, tatsächlich?.
Daniel deutet auf den Boden. Ich setze mich. Er selbst lässt sich neben den Sterbenden nieder und legt ihm eine Hand auf die Stirn. Er streichelt ihn zärtlich. Das Zittern hört auf.
– Er geht von uns, Simon. So wie wir alle eines Tages gehen werden.
– Alle bis auf dich, oder?
Er lächelt und zuckt mit den Schultern.
– Das wird die Zeit zeigen. Aber Jorge hier wird nicht mehr lange unter uns weilen.
– Warum nicht?
– Sein Glaube ist sehr stark. Er hat sich entschlossen, kein Blut mehr zu trinken.
– Himmel. Wie lange schon?
– Seit ein paar Wochen.
– Und er lebt noch?
– Tja, darüber kann man sich streiten.
Daniel streichelt den Sterbenden. Er hat recht. Jeder in der Enklave scheidet langsam dahin. Entsagt und stirbt. So ist das eben, wenn man auf Nahrung verzichtet. Das Vyrus verlangt Blut. Es stärkt dich und schärft deine Sinne, sodass du ihm mehr Blut besorgen kannst. Wenn man es nicht mehr füttert, frisst es dein eigenes Blut. Alle in der Enklave nehmen nur das Allernötigste zu sich. Aber nicht aus ethischen Gründen, um anderen den Tod zu ersparen oder so. Nein. Sie tun es, weil sie ein Haufen irrer Gespenster
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