Stadt Aus Blut
ganzen Stadt aufnehmen wollen. Doch ich lehnte ab und betete, dass sie mich dafür nicht fertigmachen würden. Die Enklave nimmt keine Bewerber auf. Sie suchen sich bestimmte Leute aus – und wenn man einmal ausgewählt wurde, ist die Enklave ein Teil deines Lebens, ob du nun willst oder nicht. Daniel sagt, dass es vorherbestimmt ist, wer zur Enklave gehört. Egal, was man vorher getan hat.
Das ist alles schön und gut, trotzdem finde ich es wenig verlockend, Jorges Beispiel zu folgen.
– Der Typ, den du zu mir geschickt hast, hat gesagt, dass ich beobachtet werde.
– Wusstest du das nicht schon vorher?
– Leck mich, Daniel. Kannst du nicht einmal eine vernünftige Antwort geben?
– Bis jetzt hast du noch keine Frage gestellt.
Ich wende den Blick von Jorge ab.
– Weißt du, was in der Schule passiert ist? Hast du von dem Überträger gehört?
– Ja.
– Natürlich. Du weißt ja immer alles.
– Aber im Gegenteil. Ich weiß praktisch gar nichts.
– Schon klar. Ich kenn deinen Spruch: In Bezug aufs große Ganze sind wir alle Vollidioten. Aber du weißt, was abgeht. Irgendjemand hat in der Schule herumgeschnüffelt. Jemand, der keinen Geruch hinterlässt.
– Ja.
– Und derselbe Jemand hat auch mein Blut geklaut. Ich will wissen, wer er ist und warum er das tut. Das ist meine Frage, Daniel.
Er fährt mit seinen dünnen Spinnenfingern über seinen kahlen Kopf.
– Das ist die falsche Frage, Simon.
– Und wie lautet dann die richtige? Kannst du mir das sagen? Dann stelle ich sie dir nämlich und erwarte eine vernünftige Antwort.
– Die Frage ist nicht wer, sondern was .
– Quatsch.
– Jemand hat es herbeigerufen. Es gehorcht ihm und tut, was er will.
Ich stehe auf.
– Jetzt wird’s wohl Zeit, dass ich gehe.
Er packt mich am Handgelenk. Seine Haut brennt auf meiner wie Feuer. Weil er ständig am Rande des Hungertods schwebt, hat das Vyrus die Kontrolle über seine autonomen Körperfunktionen übernommen und seinen Metabolismus bis zum Limit hochgefahren. In seinem Körper schlägt das Vyrus seine letzte Schlacht. Es mobilisiert alle Reserven, um an Blut zu kommen. Das ist der Zustand, den alle in der Enklave erreichen wollen, und in dem Daniel seit wer weiß wie langer Zeit schon lebt. So stark wir auch sein mögen, wenn wir wohlgenährt sind, ist es doch kein Vergleich mit den Kräften, die wir besitzen, wenn wir kurz vorm Verhungern sind. Daniel hält mein Handgelenk sanft umklammert. Wenn er wollte, könnte er mir mit Leichtigkeit den Arm ausreißen. Ich bleibe bewegungslos stehen.
– Du hörst nicht zu, Simon.
Ich setze mich wieder hin.
– Warum hast du so wenig Schwierigkeiten damit, deine eigene Existenzform zu akzeptieren, wenn du gleichzeitig so starrköpfig diejenigen leugnest, die neben dir, ja über dir stehen?
– Weil ich weiß, wo ich bin und wer ich bin.
– Und wer bist du?
– Ein Mann. Ein kranker Mann. Ich will wissen, wer mein Blut hat, damit ich nicht irgendeinen Idioten auf der Straße anzapfen muss.
– Du bist mehr als nur ein Mann, Simon. Viel mehr. Dein Blut ist weg, na und? Bleib bei uns. Das könnte deine Chance sein. Ein Neuanfang.
Ich deute auf Jorge.
Er lächelt und lässt mich los.
– Es ist ein Geist.
– Wie bitte?
– Das Ding, das in der Schule und bei dir zu Hause war. Ein Geist.
Oh, Scheiße.
– Glaub ich nicht.
– Dem Geist ist es egal, ob du an ihn glaubst oder nicht. Er ist so oder so unsichtbar, und er kann dich so oder so mit Leichtigkeit töten.
Ich schließe die Augen, wische mir den Schweiß von der Stirn und öffne sie wieder. So ein Scheißdreck.
– Was soll ich tun?
– Gegen etwas, das es gar nicht gibt?
Er zuckt mit den Schultern.
– Wie gesagt, du könntest hierbleiben. Ich erneuere mein Angebot. Du kannst diese andere Welt nicht bekämpfen, Simon. Aber du kannst versuchen, ein Teil von ihr zu werden.
Ich denke über ein Leben in der Enklave nach. Die Versammlung bildet einen Kreis um zwei ihrer Mitglieder. Was dann folgt, ist wie ein Kung-Fu-Film aus Hongkong, den man im Schnellvorlauf betrachtet. Man sieht ein verschwommenes Knäuel aus Armen und Beinen, die durch die Luft gewirbelt werden und hört das Knacken, mit dem sie sich gegenseitig die Knochen brechen. Es dauert nur einen Augenblick, dann liegt einer der Kämpfer mit gebrochenen Beinen am Boden und wird von seinen Brüdern weggetragen. Er kann sich jetzt entscheiden, ob er etwas mehr Blut trinkt, damit seine Beine heilen, oder ob er abstinent
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