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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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beobachtete nur. Unbeweglich in der sich bewegenden Menge stand er da und beobachtete. Als ungefähr die Hälfte der Reisenden an ihm vorbeigegangen war, erblickte Quinn Stillman zum erstenmal. Die Ähnlichkeit mit dem Foto schien unverkennbar zu sein. Nein, er war nicht kahl geworden, wie Quinn gedacht hatte. Sein Haar war weiß und ungekämmt und stand da und dort in Büscheln in die Höhe. Er war groß, mager, ohne Frage über sechzig und ging ein wenig gebeugt. Er trug einen für die Jahreszeit unpassenden langen braunen Mantel, der schäbig geworden war, und er schlurfte ein wenig beim Gehen. Sein Gesichtsausdruck schien ruhig zu sein, halb benommen, halb gedankenverloren. Er hatte keinen Blick für die Dinge um ihn her, und sie schienen ihn auch nicht zu interessieren. Er trug nur ein Gepäckstück, einen einst schönen, nun aber abgenutzten Lederkoffer mit einem Riemen darum. Während er den Aufgang heraufkam, stellte er den Koffer ein- oder zweimal ab und ruhte einen Augenblick aus. Er schien sich mit Mühe zu bewegen, war ein wenig von der Menge verwirrt und wußte nicht, ob er mit ihr Schritt halten oder sich von den anderen überholen lassen sollte.
    Quinn trat ein paar Meter zurück und bereitete sich darauf vor, rasch nach links oder rechts auszuweichen, je nachdem, was geschah. Gleichzeitig wollte er weit genug entfernt sein, damit Stillman nicht bemerkte, daß er verfolgt wurde. Als Stillman am Ausgang der Bahn­hofshalle ankam, stellte er seinen Koffer wieder ab und ruhte sich aus. In diesem Augenblick erlaubte sich Quinn, einen Blick zur Rechten Stillmans über den Rest der Menge schweifen zu lassen, um doppelt sicher zu sein, daß er keinem Irrtum erlegen war. Was dann geschah, entzog sich jeder Erklärung. Unmittelbar hinter Stillman, nur wenige Zoll hinter seiner rechten Schulter auftauchend, blieb ein anderer Mann stehen, nahm ein Feuerzeug aus der Tasche und zündete sich eine Zigarette an. Sein Gesicht glich dem Stillmans wie ein Zwilling dem anderen. Eine Sekunde lang dachte Quinn, es handle sich um eine Illusion, eine Art Aura, die von den elektromagnetischen Strömungen in Stillmans Körper ausgestrahlt wurde. Aber nein, dieser andere Stillman bewegte sich, atmete, blinzelte; seine Handlungen waren offensichtlich vom ersten Stillman unabhängig. Der zweite Stillman sah wohlhabend aus. Er trug einen teuren blauen Anzug, seine Schuhe glänzten, sein weißes Haar war gekämmt, und seine Augen hatten den klugen Ausdruck eines Mannes von Welt. Auch er trug nur ein Gepäckstück: einen eleganten schwarzen Koffer, der etwa ebensogroß war wie der des anderen Stillman. Quinn erstarrte. Er konnte nun nichts tun, was nicht ein Fehler war. Jede Wahl, die er traf - und wählen mußte er -, war rein willkürlich, eine Kapitulation vor dem Zufall. Die Ungewißheit würde ihn bis zuletzt verfolgen. In diesem Augenblick gingen beide Stillmans weiter. Der erste wandte sich nach rechts, der zweite nach links. Quinn sehnte sich nach dem Körper einer Amöbe, er hätte sich gern geteilt, um in zwei Richtungen zugleich weiter­zugehen. »Tu etwas«, sagte er sich. »Tu sofort etwas, du Idiot.«
    Ohne besonderen Grund ging er nach links und folgte dem zweiten Stillman. Nach neun oder zehn Schritten blieb er stehen. Etwas sagte ihm, daß er ewig bedauern würde, was er soeben tat. Er handelte aus Trotz, er wollte den zweiten Stillman dafür bestrafen, daß er ihn verwirrte. Er machte kehrt und sah den ersten Stillman in der anderen Richtung davonschlurfen. Gewiß war dies sein Mann. Dieser heruntergekommene Mensch, der so gebrochen, so sehr von seiner Umgebung losgelöst war ­ das war gewiß der wahnsinnige Stillman. Quinn holte tief Luft, atmete mit zitternder Brust aus und holte wieder Atem. Er konnte nichts mit Sicherheit wissen: dies nicht und nichts anderes. Er ging hinter dem ersten Stillman her, langsamer, um sich dem Schritt des alten Mannes anzupassen, und folgte ihm bis zur U-Bahn.
    Es war nun beinahe neunzehn Uhr, und die Menschen­mengen waren schon dünner geworden. Obwohl sich Stillman in einer Art Nebel zu bewegen schien, wußte er dennoch, wohin er wollte. Der Professor ging geradewegs auf die Treppe der U-Bahn zu, zahlte unten am Schalter und wartete ruhig auf dem Bahnsteig auf den Pendelzug zum Times Square. Quinn verlor allmählich seine Angst, entdeckt zu werden. Er hatte noch nie jemanden gesehen, der so sehr in seine eigenen Gedanken versunken war. Er bezweifelte, daß Stillman ihn sehen

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