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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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würde, wenn er sich direkt vor ihm aufstellte. Sie fuhren mit dem Pendelzug zur West Side, gingen durch die dunklen Korridore der Station in der 42nd Street und eine weitere Treppe hinunter zu den IRT-Zügen. Sieben oder acht Minuten später stiegen sie in den Broadway-Expreß, fuhren zwei weit auseinanderliegende Stationen stadtauswärts und stiegen in der 9<5th Street aus. Langsam gingen sie die letzte Treppe hinauf, Stillman machte mehrere Pausen, um Atem zu schöpfen, dann kamen sie an der Ecke herauf und traten in den indigoblauen Abend hinaus. Stillman zögerte nicht. Ohne stehenzubleiben, um sich zu orientieren, begann er den Broadway auf der Ostseite hinaufzugehen. Einige Minuten lang spielte Quinn mit der irrationalen Vorstellung, daß Stillman zu seinem, Quinns, Haus in der 107th Street ging. Aber bevor er regelrecht in Panik geraten konnte, blieb Stillman an der Ecke der 99th Street stehen, wartete, bis das Licht von Rot zu Grün wechselte, und ging auf die andere Seite des Broadways hinüber. Auf halber Höhe des Blocks gab es eine schäbige kleine Herberge für heruntergekommene Existenzen, das Hotel Harmony.
    Quinn war schon oft daran vorbeigegangen und kannte die Weinsäufer und Vagabunden, die sich dort herumtrieben. Er war überrascht, als er sah, wie Stillman die Tür öffnete und in die Halle trat. Irgendwie hatte er angenommen, der alte Mann würde eine bequemere Unterkunft haben. Als Quinn aber vor der Tür mit den Glasscheiben stand und sah, wie der Professor an den Empfangstisch trat, etwas, was zweifellos sein Name war, in das Gästebuch schrieb, seinen Koffer nahm und im Fahrstuhl verschwand, wurde ihm klar, daß dies der Ort war, wo Stillman zu bleiben beabsichtigte. Quinn wartete draußen noch zwei Stunden, er ging vor dem Häuserblock auf und ab und dachte, Stillman werde vielleicht noch einmal erscheinen, um in einem der Kaffeehäuser der Gegend zu Abend zu essen. Aber der alte Mann ließ sich nicht mehr sehen, und schließlich entschied Quinn, daß er schon schlafen gegangen sein mußte. Er rief aus einer Zelle Virginia Stillman an, berichtete ihr ausführlich, was geschehen war, und fuhr dann heimwärts zur 107th Street.

8

    Am nächsten Morgen und an vielen folgenden Morgen bezog Quinn seinen Posten auf einer Bank in der Mitte der Verkehrsinsel Broadway/99th Street. Er kam früh an, nie später als um sieben Uhr, und saß dort mit einem Papierbecher voll Kaffee, einem Butterbrötchen und einer Zeitung, die offen auf seinem Schoß lag, und beobachtete die Glastür des Hotels. Stillman kam gewöhnlich um acht Uhr, immer in seinem langen braunen Mantel und mit einer altmodischen Reisetasche. Zwei Wochen lang änderte sich nichts an dieser Routine. Der alte Mann wanderte durch die Straßen des Viertels, er kam nur langsam voran, hielt manchmal kaum merklich inne, ging weiter, machte wieder eine Pause, so als müßte jeder Schritt gewogen und gemessen werden, bevor er seinen Platz in der Gesamtheit der Schritte einnehmen konnte. Quinn fiel es schwer, sich so zu bewegen. Er war es gewohnt, rasch auszuschreiten, und dieses ständige Gehen, Stehenbleiben und Schlurfen begann ihn zu quälen, so als wäre der Rhythmus seines Körpers gestört. Er war der Hase, der den Igel verfolgte, und immer wieder mußte er sich ermahnen zurückzubleiben. Was Stillman auf diesen Gängen tat, blieb für Quinn ein Geheimnis. Er konnte natürlich mit eigenen Augen sehen, was geschah, und er zeichnete auch alles pflichtbewußt in seinem Notizbuch auf. Aber die Bedeutung von alldem entging ihm. Stillman schien niemals irgendwohin zu gehen, und er schien auch nicht zu wissen, wo er war. Dennoch hielt er sich wie mit voll bewußter Absicht an ein eng umgrenztes Gebiet zwischen der 110th Street im Norden, der 72nd Street im Süden, dem Riverside Park im Westen und der Amsterdam Avenue im Osten. So zufällig seine Wanderungen auch zu sein schienen - er schlug jeden Tag eine andere Route ein -, Stillman überschritt nie diese Grenzen. Eine solche Präzision verblüffte Quinn, denn in jeder anderen Hinsicht schien Stillman kein Ziel zu haben. Während er ging, blickte Stillman nicht auf. Seine Augen waren ununterbrochen auf das Pflaster geheftet, so als suchte er etwas. Tatsächlich bückte er sich auch dann und wann, hob etwas vom Boden auf, prüfte es genau, drehte es in der Hand hin und her. Quinn mußte an einen Archäologen denken, der an einer prähistorischen Ruinenstätte eine Scherbe untersucht. Gelegentlich

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