Stadt aus Glas
sich in sein Wohnzimmer und betrachtete die Wände. Sie waren einmal weiß gewesen, erinnerte er sich, aber nun hatten sie eine merkwürdige gelbe Tönung angenommen. Vielleicht würden sie eines Tages noch weiter der Verschmutzung anheimfallen und grau werden, vielleicht sogar braun wie eine verwesende Frucht. Eine weiße Wand wird eine gelbe Wand, wird eine graue Wand, sagte er zu sich selbst. Die Farbe ist eines Tages erschöpft, die Stadt kriecht herein mit ihrem Ruß, der Gips bröckelt ab. Veränderungen und noch mehr Veränderungen. Er rauchte eine Zigarette und dann noch eine und noch eine. Er betrachtete seine Hände, sah, daß sie schmutzig waren, und stand auf, um sie zu waschen. Im Badezimmer, während das Wasser ins Becken rann, beschloß er, sich auch zu rasieren. Er seifte sich das Gesicht ein, nahm eine saubere Klinge und begann, seinen Bart abzuschaben. Aus irgendeinem Grunde fand er es unangenehm, in den Spiegel zu sehen, und er versuchte, sich mit dem Blick zu meiden. Du wirst alt, sagte er zu sich selbst. Du wirst ein alter Furz. Dann ging er in die Küche, aß eine Schüssel Maisflocken und rauchte wieder eine Zigarette.
Es war nun sieben Uhr. Wieder überlegte er, ob er Virginia Stillman anrufen sollte. Als er sich die Frage durch den Kopf gehen ließ, fiel ihm auf, daß er keine Meinung mehr hatte. Er sah, was für den Anruf sprach, und gleichzeitig sah er, was dagegen sprach. Zuletzt gab die Höflichkeit den Ausschlag. Es wäre nicht fair zu verschwinden, ohne sie vorher zu benachrichtigen. Danach wäre es vollkommen akzeptabel. Solange man den Leuten sagt, was man tut, argumentierte er, ist alles egal. Man hat dann die Freiheit zu tun, was man will. Die Nummer war jedoch besetzt. Er wartete fünf Minuten und wählte noch einmal. Wieder war die Nummer besetzt. Die nächste Stunde verging damit, daß Quinn abwechselnd wartete und wählte, immer mit dem gleichen Ergebnis. Schließlich rief er den Telefondienst an und fragte, ob das Telefon gestört sei. Man werde ihm eine Gebühr von dreißig Cent anrechnen, sagte man ihm. Dann knackte es in den Leitungen, man hörte, wie gewählt wurde, man hörte Stimmen. Quinn versuchte sich vorzustellen, wie die Telefonistinnen aussahen. Dann sprach die erste Frau wieder zu ihm: Die Nummer war besetzt.
Quinn wußte nicht, was er denken sollte. Es gab so viele Möglichkeiten, daß er nicht einmal wußte, wo er anfangen sollte. Stillman? Lag der Hörer neben dem Apparat? Jemand ganz anderer? Er schaltete den Fernsehapparat ein und sah sich die ersten beiden Durchgänge des Spiels der Mets an. Dann wählte er noch einmal. Dasselbe. St. Louis holte sich Punkte durch ein Mal nach vier schlechten Würfen, ein gestohlenes Mal, ein Aus im Innenfeld und einen Aufopferungsball. Die Mets glichen in ihrer Hälfte des Durchgangs durch einen Doppellauf Wilsons und einen Single Youngbloods aus. Quinn stellte fest, daß es ihm gleichgültig war. Eine Bierwerbung wurde eingeschoben, und er schaltete den Ton ab. Zum zwanzigstenmal versuchte er, Virginia Stillman zu erreichen, und zum zwanzigstenmal passierte dasselbe. Zu Beginn des vierten Durchgangs brachte St. Louis fünf Läufe durch, und Quinn schaltete auch das Bild ab. Er fand sein rotes Notizbuch, setzte sich an den Schreibtisch und schrieb während der nächsten zwei Stunden ohne Unterbrechung. Er machte sich nicht die Mühe, noch einmal zu lesen, was er geschrieben hatte. Dann rief er Virginia Stillman an und hörte wieder das Besetztzeichen. Er warf den Hörer so heftig auf die Gabel, daß das Plastik knackte. Als er noch einmal anzurufen versuchte, war die Leitung tot. Er stand auf, ging in die Küche und machte sich noch eine Schüssel Maisflocken. Dann legte er sich schlafen.
In seinem Traum, den er später vergaß, ging er den Broadway hinunter und hielt Austers Sohn an der Hand.
Quinn verbrachte den folgenden Tag auf den Beinen. Er begann früh, kurz nach acht Uhr, und überlegte nicht, wohin er ging. Es ergab sich, daß er an diesem Tag viele Dinge sah, die er zuvor nie bemerkt hatte.
Alle zwanzig Minuten ging er in eine Telefonzelle und rief Virginia Stillman an. Wie es am Abend zuvor gewesen war, so war es auch an diesem Tag. Aber nun erwartete Quinn, daß die Nummer besetzt war. Es machte ihm nichts mehr aus. Das Besetztzeichen war ein Kontrapunkt zu seinen Schritten geworden, ein Metronom, das in den zufälligen Geräuschen der Stadt einen stetigen Takt schlug. Es lag ein Trost in dem Gedanken, daß
Weitere Kostenlose Bücher