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Stadt aus Glas

Titel: Stadt aus Glas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paul Auster
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Betrunkenen. Von den lediglich Mittellosen bis zu den völlig Elenden und Gebrochenen. Wohin man sich wendet, sie sind da, in guten und in schlechten Vierteln.

    Manche betteln mit einem Anschein von Stolz. Gebt mir dieses Geld, scheinen sie zu sagen, und ich werde bald einer der euren sein und hin und her eilen bei meinen täglichen Geschäften. Andere haben die Hoffnung auf­gegeben, sich jemals wieder aufzurappeln. Sie liegen auf dem Gehsteig ausgestreckt mit ihrem Hut, ihrer Schale oder ihrer Schachtel, machen sich nicht einmal die Mühe, zu den Vorübergehenden aufzublicken, zu sehr geschla­gen, um auch nur denen zu danken, die ihnen eine Münze hinwerfen. Andere wieder versuchen für das Geld, das man ihnen gibt, zu arbeiten: die blinden Bleistiftverkäufer, die Weinsäufer, die einem die Windschutzscheibe des Wagens waschen. Manche erzählen Geschichten, gewöhnlich tragische Schilderungen ihres eigenen Lebens, so als wollten sie ihren Wohltätern etwas für ihre Güte geben - und wären es nur Worte.
    Andere haben echtes Talent. Der alte Schwarze heute zum Beispiel, der steppte, während er Zigaretten jonglierte - immer noch würdevoll, offensichtlich ein ehemaliger Varietekünstler, in einem purpurroten Anzug mit grünem Hemd und gelbem Schlips, der Mund in einem halb vergessenen Bühnenlächeln erstarrt. Dann gibt es die Pflastermaler und Musiker: Saxophonisten, Gitarristen, Geiger. Gelegentlich trifft man ein Genie, wie ich heute:

    Ein Klarinettist unbestimmten Alters mit einem Hut, der sein Gesicht vollkommen verdunkelte, saß mit gekreuzten Beinen wie ein Schlangenbeschwörer auf dem Gehsteig. Direkt vor ihm standen zwei aufziehbare Affen, der eine mit einem Tamburin, der andere mit einer Trommel. Während der eine schüttelte und der andere schlug und beide seltsame, präzise Synkopen erzeugten, improvisierte der Mann endlose kleine Variationen auf seinem Instrument, sein Körper schaukelte steif vor und zurück und ahmte energisch den Rhythmus der Affen nach. Er spielte leicht und mit feinem Gespür lebhafte, verschlungene Figuren in Moll, so als wäre er glücklich, mit seinen mechanischen Freunden beisammen zu sein, eingeschlossen in dem Universum, das er geschaffen hatte. Es ging weiter und weiter, letzten Endes immer dasselbe, und dennoch: Je länger ich zuhörte, desto schwerer fiel es mir, mich loszureißen.
    Innerhalb dieser Musik sein, in den Kreis ihrer Wiederholungen gezogen werden: vielleicht ist das ein Ort, wo man zuletzt verschwinden könnte.

    Aber Bettler und Künstler machen nur einen kleinen Teil der Vagabundenbevölkerung aus. Sie sind die Aristokra­ten, die Elite der Gefallenen. Weit zahlreicher sind diejenigen, die nichts zu tun haben, die nirgendhin gehen können. Viele sind Säufer, aber dieser Ausdruck wird der Verheerung nicht gerecht, die sie verkörpern. Hüllen der Verzweiflung, in Lumpen gekleidet, ihre Gesichter blau geschlagen und blutend; sie schlurfen durch die Straßen wie in Ketten. Sie schlafen in Toreingängen, taumeln wie Verrückte durch den Verkehr, brechen auf Gehsteigen zusammen. Und sie scheinen überall zu sein, sooft man sich nach ihnen umsieht. Manche verhungern, andere erfrieren, wieder andere werden geschlagen oder verbrannt oder gefoltert.

    Für jede Seele, die in dieser besonderen Hölle verloren ist, gibt es mehrere andere, die im Wahnsinn eingeschlossen leben - unfähig, in die Welt hinauszugehen, die an der Schwelle ihres Körpers beginnt. Obwohl sie da zu sein scheinen, können sie nicht als anwesend gezählt werden. Der Mann zum Beispiel, der immer zwei Trommelstöcke bei sich hat und mit ihnen einen verwegenen, unsinnigen Rhythmus auf das Pflaster trommelt, ungeschickt vornüber gebeugt, während er die Straße entlang geht und auf den Beton schlägt und schlägt. Vielleicht glaubt er, eine wichtige Arbeit zu verrichten. Vielleicht würde, wenn er nicht tut, was er tut, die Stadt auseinanderfallen. Vielleicht würde der Mond aus seiner Bahn trudeln und auf die Erde stürzen. Es gibt welche, die mit sich selbst reden, die murmeln, schreien, fluchen, stöhnen, die sich selbst Geschichten erzählen, als hörte ihnen jemand zu. Der Mann, den ich heute sah: Er saß wie ein Haufen Abfall vor der Grand Central Station, die Menge strömte an ihm vorbei, und er sagte mit lauter, schreckerfüllter Stimme: >Drittes Marineinfanteriekorps ... Bienen essen ... Die Bienen krabbeln aus meinem Mund.< Oder die Frau, die einem unsichtbaren Begleiter zurief: >Und

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