Stadt aus Sand (German Edition)
Dorfältesten.
Sie schwangen über ihren Köpfen Stöcke und Ackergeräte und schrien: »Da ist sie! Da ist sie! Sie ist es gewesen! Sie hat unseren Geschichtensänger getötet! Das Dorf ist tot!«
»Großvater? Warum sind sie alle so zornig auf mich?«
Ihre Brüder kamen näher, und nun hörte Rokia sie schreien: »Sie hat das Huhn mit Henna gekocht!«
»Sie hat die Wäsche im Fluss zerrissen!«
»Jetzt werde ich ihr die Ohren abreißen!«
»Genau! Ihre hässlichen großen Ohren! Ich kann die nicht mehr sehen!«
Rokia drängte sich an ihren Großvater und packte seine Hand. Doch die Hand war wie verdorrt. Wie eine mit Sand gefüllte Hülle aus Haut.
»Großvater?«
Rokia hatte aufgeschaut.
Der ganze Körper ihres Großvaters war nur eine mit Sand gefüllte Hülle.
Und der Himmel leuchtete feuerrot.
In diesem Moment war sie aufgewacht.
Rokia konnte nicht mehr einschlafen.
Das Bild von ihren Brüdern, die sie mit Stöcken bedrohten, oder das ihres Großvaters, der zu einer Statue aus Sand erstarrt war, verfolgten sie so, dass sie die Lider nicht schließen wollte.
»Es war nicht meine Schuld«, flüsterte Rokia und starrte zu ihrer im Schlaf zusammengerollten Mutter hinüber. Dabei erinnerte sie sich wieder an ihren großen Schmerz, als ihr bewusst geworden war, dass nicht einmal sie ihren Worten Glauben schenkte. Rokia empfand keine Wut: Ihre Mutter konnte das ja nicht wissen. Sie war nicht dabei gewesen, als ihr der Großvater von der Seele erzählt hatte, die ihren Körper verlässt. Ihre Mutter wusste nichts von Sanagò, der die Geschichtensänger raubte. Sie hatte keines der Geheimnisse mit dem Hogon geteilt, kannte nichts außerhalb ihres Dorfes. Zouley konnte das nicht verstehen. Sie war nur eine Mutter.
Rokia dagegen wusste es. Sie wusste, dass der Sand sich ausbreitete, weil es mitten in der Wüste eine Stadt gab. Und dass in dieser Stadt ein Mann namens Sanagò, der Fürst der Stadt aus Sand, lebte.
Sie wusste, dass Sanagò die Seele von Großvater Matuké geraubt hatte.
Dass er sie verbraucht hatte.
Oder dass er sie vielleicht noch bei sich trug.
Sie wusste, dass der Großvater ohne seine Seele nicht mehr lange leben konnte.
Und dass man sie daher holen musste.
Rokia drehte sich in ihrem Bett um.
Sicher: Man musste sie holen.
Aber ihre Brüder konnten nicht dorthin gehen. Sie hätten ihr auch nie geglaubt. Und der Hogon konnte nicht gehen, denn sonst wäre niemand mehr da, um das Dorf zu beschützen. Und für die Ältesten war die Reise durch die Wüste zu beschwerlich.
Wer sonst konnte also gehen?
Sie drehte sich nochmals um und seufzte.
Ihr Vater hätte gehen können. Aber der war auf der Jagd. Und dort würde er noch viele Tage bleiben.
Es blieben aber nicht mehr viele Tage.
Es war ganz still in ihrem Zimmer. Der flirrende Schein des Mondes schimmerte durch die Nacht.
Sie könnte ja gehen.
Dann würden ihre Brüder nicht mehr denken, dass es alles ihre Schuld war. Oder sie konnten es denken, aber sie würden auch sagen, dass sie alles wieder in Ordnung gebracht hätte. Wer etwas anstellt, muss es auch wieder in Ordnung bringen.
Schließlich handelte es sich um ihren Großvater.
Großvater wäre bestimmt für sie in die Wüste gegangen.
Großvater war ein ganz besonderer Mensch.
Rokia fasste an das Gris-gris , das ihr der Hogon um den Hals gelegt hatte. Sie öffnete es vorsichtig, und zwei kleine Bernsteinstücke kollerten heraus. In dem schwachen Licht konnte Rokia fast nichts sehen, aber als sie mit ihren Fingern zärtlich darüberfuhr, bemerkte sie, dass in beide etwas eingeritzt war.
Ihr Großvater hatte gesagt, wenn ihm etwas zustieße, solle sie es erhalten. Und als sie nach Tamanè gereist waren, hatte er immer darauf geachtet, dass sich Rokia den Weg zurück genau einprägte. Als ob er von Anfang an gewusst hätte, dass ihm etwas zustoßen würde.
Aber wenn er das vorhergesehen hatte, warum war er dann trotzdem aufgebrochen?
»Er wollte, dass ich ihn begleite«, grübelte Rokia. »Warum?«
Als sie die Augen schloss, fühlte sie ihn wieder neben sich, wie sie Schulter an Schulter unter dem sternenübersäten Himmel lagen. Sie hörte seine Stimme und das, was er gesagt hatte.
»Warum seid ihr Feinde, du und der Fürst?«, fragte sie ihn laut.
Schließlich traf sie eine Entscheidung.
Sie erhob sich von ihrem Lager und tastete mit der Hand nach einem Gewand. Ohne es anzuziehen, schlich sie auf Zehenspitzen bis zum Vorhang und blieb dort stehen. Dann drehte
Weitere Kostenlose Bücher