Stadt aus Sand (German Edition)
wiederzuholen. Ich denke, dass er … sie schon … verbraucht haben wird.«
»Er verbraucht Seelen? Wie das denn?«
»Er ernährt sich davon und zieht daraus die Kraft, die er benötigt, um die Ausdehnung der Wüste voranzutreiben. Und um seine Zauber mit Leben zu erfüllen.«
»Zauber wie die Geier? Und die schwarzen Schlangen?«
»Wie die Geier, die schwarzen Schlangen, der Sand, der alles verschlingt, und die Menschen, die in leere, bewusstlose Hüllen verwandelt werden oder in Tiere.«
»Und warum hasst er die Geschichtensänger?«
Setuké machte eine vage Geste. »Aus vielerlei Gründen. Aber vor allem, weil sie ihn an seine Vergangenheit erinnern. Als er noch einen anderen Namen hatte.«
»Auch Musoyuma hat mir das von dem Namen erzählt.«
»Nur wenige kennen ihn. Er lautet Sanagò.«
Rokia wiederholte für sich diesen Namen, und während sie ihn wiederholte, fühlte sie, wie ihr Herz immer schneller schlug. Obwohl sie nicht alles verstand, was der Hogon ihr erzählte oder was er hier vorbereitete, wagte sie es nicht, ihn danach zu fragen. Sie hatte an diesem Nachmittag schon mehr mit Setuké gesprochen als in all den vorangegangenen Jahren zusammen.
Doch da war noch etwas, was ihr nicht aus dem Kopf ging.
»Und wenn Großvaters Seele noch nicht … verbraucht ist?
»Dann bedeutet das, dass er sie gefangen hält.«
»Können wir ihn nicht bitten, sie uns wieder zurückzugeben?«
»Er wird sie uns nie geben. Er hasst uns.«
»Warum?«
»Weil wir seine Feinde sind. Weil wir seinen wahren Namen kennen. Weil wir die Träume der Menschen lebendig halten und das Öl, das in ihren Adern kreist. Er dagegen will all das mit seinem Sand ersticken und verdorren lassen.«
»Aber ich doch nicht«, meinte Rokia. »Ich bin nicht sein Feind. Ich kenne ihn nicht einmal, ich weiß nichts über ihn.«
Für einen Augenblick glühte etwas in Setukés Augen auf, das nicht von Hass getrieben wurde. »Und er kennt dich nicht«, bestätigte er.
»Darf ich dich fragen, was du mit diesen Quadraten getan hast?«, fragte ihn Rokia.
»Ich habe den Fuchs gerufen«, antwortete der Hogon und zeigte auf den Köder in der Mitte der Quadrate. »Morgen früh bei Sonnenaufgang werde ich wiederkommen, um aus seinen Spuren zu lesen. Und je nachdem, wie er sich auf den heiligen Quadraten verhalten hat, werde ich wissen, was ich zu tun habe.«
»Und wenn der Fuchs nicht kommt?«
»Dein Großvater hatte recht«, lächelte der Hogon . »Du stellst wirklich sehr viele Fragen.«
Mit einer flinken Bewegung nahm er das Gris-gris von seinem Hals und legte es Rokia um.
»Nimm du es jetzt. Matuké hat mir immer gesagt, falls ihm etwas zustößt, soll es dir gehören.«
BEI SONNENAUFGANG
Mit schweißbedeckter Stirn schreckte Rokia hoch. Verzweifelt schaute sie sich um.
Sie war wieder in ihrer Hütte. Die dunkle Silhouette ihrer Mutter, die sich auf dem Bett neben ihr abzeichnete, wirkte tröstlich auf sie.
Rokia schloss ihre Augen wieder und murmelte ein Gebet. »Amma sei Dank. Es war nur ein Traum.«
Sie drehte sich langsam im Bett um und starrte in die dunklen Schatten um sie herum. Durch den Vorhang drang von draußen der flirrende Schimmer des Mondes.
Zum Glück war alles nur ein Traum gewesen.
Als Rokia die Augen schloss, merkte sie, dass sie immer noch Angst hatte. Es war wirklich ein schrecklicher Albtraum gewesen. Der krönende Abschluss dieses schrecklichen Tages. Oder noch eine Botschaft für sie?
Rokia drehte sich auf ihrem Lager um und versuchte, sich an den gesamten Inhalt ihres Traums zu erinnern, um dessen Bedeutung zu verstehen.
Sie hatte von ihrem Großvater geträumt.
Sie waren zusammen gewesen, aber es war, als säßen sie in einer Glaskugel. Der Himmel leuchtete feuerrot. Sie sahen zu, wie ihr Dorf im Sand verschwand. Auf dem Baobab saßen schwarze Geier, und aus den Getreidespeichern an der Falaise stiegen Tentakel aus Rauch auf.
»Wir können nichts machen«, sagte der Griot in ihrem Traum. »Wir sind zu wenige. Sanagò ist zu mächtig für uns.« Dann hatte er geflüstert: »Ich habe Angst, Rokia.«
Da hatte ihn Rokia an der Hand genommen und zu ihm gesagt: »Wenn du Angst hast, Großvater … also wenn du wirklich ganz viel Angst hast … dann sing!«
Und in diesem Augenblick waren in ihrem Traum ihre Brüder erschienen und mit ihnen Dutzende Hühner. Auch Frau Karembé war da, die den Hennen hinterherlief. Und dann waren da Aotyé, der Dorftrottel, Yatoyé Stocksteifer Rücken und die
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