Stadt aus Sand (German Edition)
diesem Abend jedoch hörte Raogo nicht den Ruf eines Rebhuhns, sondern eine Stimme.
Eine ferne Stimme.
Er kletterte auf einen verlassenen Karren. Von dort balancierte er über Seile, die ein Vorzelt hielten, und gelangte so auf ein niedriges Flachdach, auf das der Eigentümer völlig sinnlos wirkende Kamine gebaut hatte.
Sobald der Wüstenfuchs auf dem Dach stand, stellte er seine großen Ohren auf und lauschte, ob er die Stimme wieder hörte. Doch er hatte jede Spur verloren.
Er hob seine spitze Schnauze witternd zu den Mauern des Palastes. Schwärme schwarzer Vögel kreisten um einen der Türme. Riesige Feuerbecken färbten mit ihrem wütenden Schein die nächtliche Dunkelheit rot.
Raogo klemmte den Schwanz zwischen die Beine und dachte schon, er hätte sich geirrt.
Doch dann hörte er sie wieder, diesmal noch deutlicher. Es war Rokias Stimme, die da rief: »Hilfe! Ayad! Raogo! Großvater! Helft mir!«
Der Fuchs richtete seinen Schwanz steil auf, dass er aussah wie ein Ausrufezeichen.
War das möglich? Rokia, dort oben? Im Palast!
Wie war sie dort hineingekommen? Und was geschah gerade mit ihr?
Doch der Hilfeschrei wiederholte sich nicht. Die Geier stießen auf die Mauern hinab, und dann sprang Raogo vom Dach und lief weiter durch die Straßen.
Der Fennek kam zu Kabirs Lokal, wo er sich leise zu einer Gruppe von Freunden gesellte, die die Türsteher begrüßten und das Lokal betraten. Er kletterte zwei sehr schmale Stiegen hinunter und gelangte so in einen von leisem Stimmengemurmel erfüllten Raum, wo die Leute sich heimlich zum Feiern trafen. Er schlüpfte zwischen Beinen und Knöcheln hindurch und suchte überall nach seinem Herrn, was nicht weiter schwierig war.
Er fand ihn genau dort, wo er ihn verlassen hatte. Ayad stützte sich auf ein riesiges Fass, das als Tisch diente. Vor ihm standen eine Reihe leerer Gläser, sein Hut aus Krokodilsleder hing ihm schief über die Stirn, und die aufgemalten Muster in seinem Gesicht waren verschmiert.
»Alles weg, ich habe wirklich alles verloren!«, erzählte er zum wiederholten Mal dem Mann, der auf der anderen Seite des Fasses stand und so tat, als würde er ihm zuhören. »Das Mädchen, meinen Broterwerb und die Dromedare! Kannst du mir sagen, was aus mir werden soll?«
Raogo wirbelte zwischen seinen Füßen herum und knurrte ihn an, doch Ayad ignorierte ihn.
»Alles weg! Ich weiß nicht, wo ich schlafen soll, ich kann mir ja nicht einmal ein Bett leisten.«
Der Fuchs zerrte an einem Zipfel seines Gewandes, riss sogar einen Fetzen heraus, doch dann sackte Ayad mit dem Gesicht nach unten auf dem Fass wie ein Sack Bohnen in sich zusammen.
»Alles verloren … An einem einzigen Tag!«, lallte er noch, ehe er unvermittelt einschlief.
Raogo kauerte sich zu seinen Füßen hin und dachte nach. Dann ging er wieder nach draußen. Kletterte auf ein anderes Dach und betrachtete von dort aus lange den großen Palast aus Sand, der sich wie ein dunkler Fleck vor dem Sternenhimmel abzeichnete.
Er zog die Lefzen zurück und knurrte.
Heulte.
Und schließlich traf er eine Entscheidung.
Dann lief er lautlos durch die Stadt, ohne dass ihn jemand bemerkte. Raogo war wie der Schatten eines Fenneks, der über Müllhaufen und Abwasserrinnen durch die Nacht schlich. Er kam an verrammelten Toren vorbei, wich Wasserpfützen aus, bis er schließlich die Stufen der großen Südtreppe hinaufkletterte. Raogo glitt wie ein Schatten zwischen den zwölf Feuerbecken hindurch, die noch immer vor dem Palasttor brannten, duckte sich, als die Wachen auf ihrer Runde vorbeikamen, und zwängte sich dann durch eine der großen Aussparungen im Gittertor, das den Eingang versperrte.
Schließlich fand er sich in dem Säulengang wieder, der rund um den großen Innenhof lief. Unbemerkt und verängstigt, jedoch fest entschlossen, seine Freundin zu suchen.
»Niemand weiß, was geschah, als das Kind verschwand«, gab Setuké zu und machte das Feuerzeug aus. »Aber man kann es sich vorstellen.«
Inogo konnte die Augen des Hogon im Dunkeln glänzen sehen.
»Das Kind wuchs heran. Es lernte. Und alles, was es lernte, hatte es sich selbst beigebracht. Ohne Lehrmeister. Es suchte lange nach dem Geschichtensänger, der ihn zurückgewiesen hatte, und darauf nach anderen. Und alle sagten ihm, dass es nicht über die Gabe verfügte, Geschichten zu erzählen: Es wusste nicht, wie es die Phantasie der Menschen zum Erblühen bringen konnte und wie man das Öl des Blutes vermehrt. Es wusste nicht, wie es
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