Stadt aus Sand (German Edition)
begriff sie, was ihr Großvater damit gemeint hatte, als er sagte, dass der Körper das Gefängnis der Seele ist! Rokia fühlte sich genauso wie vorher, nur waren dort, wo ihrer Meinung nach Hände, Arme und Beine sein sollten, nun stattdessen kurze und kräftige Fuchsbeine. Durch die Augen eines Fuchses kam ihr das Zimmer größer vor, und sie sah alles viel deutlicher. Sie konnte den gebogenen, flügelförmigen Thron genau erkennen, den Fürsten, der an die Wand gelehnt stand und sich die schmerzende Hand hielt, die Türen, die auf den Gang und zu den anderen Zimmern führten.
Mit ihren neuen, sehr empfindlichen Ohren kam ihr das Jammern des Fürsten wie ein schreckliches Geheul und die fernen Schritte der Wachen so laut wie Trommelschläge vor. Sie hörte etwas über den Boden schleifen und merkte, dass sie unter ihrem Fell noch das Gris-gris ihres Großvaters am Hals trug.
»Großvater!«, sagte sie, doch anstelle von Worten kam nur ein unartikuliertes Geräusch heraus, das einem Knurren glich.
Das war zu viel für sie.
Ehe sie überhaupt begriff, was sie da tat, rannte Rokia los und floh zur Tür hinaus, kurz bevor die ersten Wachen eintrafen.
Sie schlüpfte zwischen ihren Stiefeln hindurch und hörte noch, wie der Fürst schrie: »Ihr müsst kein Mädchen mehr suchen! Sondern einen Fennek! Einen Fennek! Sucht einen Wüstenfuchs!«
DIE FLUCHT
Auf der Suche nach einem Weg aus dem Palast rannte Rokia durch Flure und jagte Treppen hinunter. Verwirrt von den neuen Eindrücken, die auf sie einstürmten, konnte sie nur noch denken, dass sie immer weiterrennen musste. Sie glitt von einer Tür zur anderen, schlüpfte geschickt zwischen den Beinen der Wachen hindurch und versteckte sich in kleinen Nischen, die sie zu weiteren Zimmern führten.
Sie kannte ihre neuen Reflexe zu wenig, um sie richtig einsetzen zu können. Deshalb ließ sie sich von ihren Muskeln, Ohren und ihrem Geruchssinn leiten, rannte hakenschlagend durch leere Zimmer, Gänge und Vorratskammern.
Mit einem gewaltigen Satz ließ sie einen Trupp Wachen mit ihren Strohhüten stehen und landete auf einer abwärtsführenden Wendeltreppe, deren Stufen so hoch und steil waren, dass ihr ganz schwindelig wurde. In der Mauer waren Kratzspuren.
Ohne darüber nachzudenken, rannte sie nach unten.
Doch auf halbem Weg blieb sie stehen, da sie merkte, dass jemand die Wendeltreppe heraufkam. Sie war eng und schmal, und es gab keinerlei Möglichkeiten, sich zu verstecken.
Rokia lauschte.
Witterte.
Keine Gefahr, so meinte sie zumindest. Nach vier Stufen machte die Treppe wieder eine Biegung. Sie ging eine hinab, dann noch eine.
Das Gris-gris schleifte auf dem Boden
Rokia witterte einen vertrauten Geruch.
Ging noch eine Stufe.
Und stand auf einmal Schnauze an Schnauze einem anderen Wüstenfuchs gegenüber.
»Raogo!«, rief Rokia, als sie ihn wiedererkannte. Doch ihre Kehle brachte bloß ein schwaches Knurren hervor. »Raogo!«, wiederholte sie voller Freude.
Und warf sich Ayads Fuchs mit dem Bauch nach oben vor die Füße.
Raogo blieb verblüfft stehen. Er beschnupperte den unbekannten Fuchs und bemerkte, dass es ein Weibchen war. Daraufhin wedelte er glücklich mit dem Schwanz.
Hatte er sie erkannt?
»Raogo! Ich bin's! Rokia!«, versuchte sie es in der Hoffnung, dass er sie verstand. Aber offensichtlich kommunizierten Fenneks anders untereinander, denn Raogo betrachtete sie nur schwanzwedelnd und mit einem etwas dümmlichen, zufriedenen Ausdruck im Gesicht.
Sie streifte ihm mit dem Hals über die Schnauze.
Siehst du das Gris-gris ?, wollte sie ihm sagen. Hast du verstanden, wer ich bin?
Als Raogo plötzlich das Ledersäckchen auf der Schnauze spürte, knurrte er los.
Dummer Fennek!, hätte Rokia am liebsten geschrien. Was der wohl begriffen hatte?
Dann jaulte sie ganz leise. Und versuchte, ihr Jaulen so klingen zu lassen, dass es eine Melodie bildete. Sie begann jenes Lied zu singen, das so ging:
»Funken des Feuers, Funken des Herzens …«
Und betete stumm, dass Raogo sie wiedererkannte.
Ayads Fennek blieb wie angewurzelt stehen. Er kam mit seiner Schnauze an das Säckchen heran, berührte es schnuppernd und schaute sie dann an.
»Ja!«, meinte sie und senkte bestätigend den Kopf. Dann leckte sie ihm die Nase. »Ich bin's! Rokia!«
Raogo fuhr ihr ebenfalls mit der Zunge über die Nase, und so begriff das Mädchen, dass er sie erkannt hatte.
Als er nun die Treppe weiter hinaufklettern wollte, biss Rokia ihn leicht in den Schwanz. Dann
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