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Stadt aus Sand (German Edition)

Stadt aus Sand (German Edition)

Titel: Stadt aus Sand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierdomenico Baccalario , Enzo d'Alò , Gaston Kaboré
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sie zum Träumen bringen konnte. Dieser Gedanke verletzte das Rote Kind so sehr, dass es beschloss, von da an nie mehr zu träumen. Es schlief nie wieder. Und in dem Wahnsinn, der darauf folgte, stellte es fest, dass die Geschichtensänger sich geirrt hatten. Es verfügte sehr wohl über eine Gabe, die jedoch das Gegenteil bewirkte. Das Rote Kind wusste, wie man das Öl des Blutes zum Vertrocknen brachte. Wie man es ausdörrte.
    Und dies tat es nun. Wir wissen nicht, wann und auf welche Weise das Rote Kind die verbotenen Worte lernte, ob es sie aus eigener Kraft entdeckte oder jemanden zwang, sie ihm beizubringen. Auf jeden Fall hat es sie gelernt. Und mit diesen Worten schreckliche Zauber, die die Körper von Menschen verfallen und seinen eigenen nie mehr altern ließen. Es lernte, wie es die Seelen der Lebenden an sich reißen konnte, die den Körper für kurze Momente verlassen, wenn sie von einem Gefühl überwältigt werden, und wie es sie an der Rückkehr hindern konnte. Das Kind tötete mit Worten. Es schuf grauenerregende Visionen. Und Kreaturen.
    Durch seine schreckliche Macht erlangte es Respekt und Ergebenheit, aber das war es nicht, was es suchte. Ihm fehlte noch etwas. Etwas, das es schon immer gewollt hatte.«
    Setuké ließ schnell das Feuerzeug aufleuchten und zeigte Inogo ein anderes Bild, auf dem ein Baobab zu sehen war, um den sich Schlangen wickelten.
    »Es geschah bei einem Sigi -Fest. Die Geschichtensänger hatten sich in einem Dorf am Ufer des Niger versammelt. Dieses Dorf trägt nun einen anderen Namen. Heute heißt es die Stadt aus Sand. Etwas außerhalb dieses Dorfes stand ein großer Baobab. Es war ein heiliger Baum, weil ein alter Griot in seinem Stamm begraben war. Die Geschichtensänger hatten einen Wettstreit angesetzt, und der letzte, der auftreten sollte, nannte sich Der Fürst . Doch er hatte keine Musikinstrumente mitgebracht. Er trug ein langes blaues Gewand, und seine Haut war schwarz, von der Sonne verbrannt. Er hatte fast keine Nase mehr und auch keine Ohren.«
    Setuké ließ die Flamme des Feuerzeugs ausgehen.
    »Als die Reihe an ihn kam, stützte der Fürst eine Hand gegen den Stamm und fragte den Leichnam des Griot , der darin begraben war, ob er sich an ihn erinnere.«
    Inogo hatte plötzlich eine Ahnung: »Der Geschichtensänger im Stamm war der, der …«
    Setuké ließ die Flamme wieder aufflackern.
    »Ja. Es war der, der sich geweigert hatte, ihm als Lehrmeister zu dienen. An jenem Tag begriff man auch, warum. Der Fürst begann seinen Vortrag. Er sang. Und …«
    Der Hogon hob die Hand mit dem Feuerzeug zur Decke.
    Doch da waren keine weiteren Bilder.

DIE FÜCHSE
    Sie hörte ihn singen.
    In den menschenleeren Räumen des Palastes war wieder Stille eingekehrt. Rokia hörte nur noch die Stimme des Fürsten, die wie Kalkfarbe die Wände entlangrann. Sie glitt von einem dunklen Raum zum nächsten und verlor sich allmählich.
    Rokia lauschte und lief auf lautlosen Sohlen dahin, nur ihr Gewand raschelte leise. Sie kam durch endlose leere Zimmerfluchten. Wenn sie das Lied hörte, versuchte sie, sich möglichst weit davon zu entfernen. Wenn es endete, blieb auch sie stehen.
    Jetzt hörte sie nur noch ihr pochendes Herz. Das raue Wispern der Tentakel war ebenso verstummt wie das wilde Flattern der Geierflügel. Aber wenn sie an einem Fenster vorbeigekommen war, hatte sie sie öfter dort draußen hocken sehen, während sie auf Befehle warteten.
    Als Rokia durch den Palast streifte, entdeckte sie dessen irrwitzige Bauweise: Es gab Säle mit unglaublich hohen Decken, auf die winzig kleine Zellen folgten. Zimmer ohne Boden, die man nur auf einem schwankenden Holzsteg durchqueren konnte, der wie ein Seil über einer Brunnenöffnung befestigt war. Dort konnte man erkennen, wie tief es in die Erde hinabging, und es blies ein sanfter Wind, der ihr Angst einjagte. Es gab schmale, langgestreckte Zimmer, die sich spiralförmig in sich selbst verdrehten und dann in steilen Wendeltreppen endeten, die die verschiedenen Stockwerke des Palastes miteinander verbanden. Es gab Zimmer voller Statuen. Zimmer, die mit Eisengittern versperrt waren. Violett geäderte Marmorböden. Und Böden mit schwarz-weiß kariertem Schachbrettmuster. Knarrende Holzböden. Läufer aus geflochtenen Hanffasern.
    Aber vor allem gab es überall Schatten und eine lähmende Stille, die ihre wenigen Besucher zu beobachten schien. Und dann dieses Lied, das sich verführerisch überall hinschlich, immer weiter vordrang,

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