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Stadt aus Sand (German Edition)

Stadt aus Sand (German Edition)

Titel: Stadt aus Sand (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Pierdomenico Baccalario , Enzo d'Alò , Gaston Kaboré
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weiter nach oben.
    Und weiter.
    Plötzlich war sie im Freien, hoch oben auf den Palastmauern, hinter den kegelförmigen Zinnen, die die Wehrgänge schützten. Der Himmel über ihr war zwar noch von blauen Streifen durchzogen, doch über alles hatte sich bereits eine bleierne Dunkelheit gelegt. Auf dem Wachtturm über ihr brannten prasselnd Leuchtfeuer in riesigen Becken.
    Unter ihr auf dem Hof sah sie zahllose Fackeln, die von hier oben so klein und kribbelig wie Insekten auf der Suche nach wertvoller Beute wirkten.
    Als sie prüfend ihre Hände betrachtete und sich über das Gesicht fuhr, stellte Rokia erleichtert fest, dass das Fell, die Krallen und die Häutchen zwischen den Fingern verschwunden waren. Sie war wieder ein ganz normales Mädchen. Sie war wieder Rokia.
    Sie kletterte auf die Brüstung und hielt sich dabei an den Zinnen fest. Jetzt stand sie hoch oben: Tief unter ihr erstreckte sich die Stadt aus Sand wie ein Insektenreich. Sie sah den Niger, der träge von Osten nach Westen floss, und auf ihm die dreieckigen Segel der Boote.
    Der frische Wind von der Wüste zerrte an ihren Haaren. Wenn sie doch nur Flügel gehabt hätte, dann wäre sie davongeflogen, fort von diesem Palast ohne Leben und seinen leeren Räumen, fort von der einzigen Stimme, die darin widerhallte, und von den tausend Schritten, die jedes Zimmer kontrollierten.
    Aber sie war kein Vogel und sie konnte nicht fliegen.
    Sie war eine kleine Ameise.
    Eine mutige kleine Ameise.
    Die dringend Hilfe brauchte.
    Rokia hielt sich an der Zinne vor ihr fest und schrie, so laut sie konnte: »Hilfe! Kann mir jemand helfen? Hilfe! Ich bin hier oben!«
    Aber aus der Stadt antwortete ihr niemand.
    »Hilfe!«, schrie sie noch einmal und hoffte, dass der Wind ihre Stimme weit tragen würde. »Ayad! Raogo! Großvater! Helft mir!«
    Diesmal hörte sie jemand.
    Rokia hob den Kopf und strich sich die Haare aus den Augen. Sie sah, wie ein Schwarm Geier von den Türmen aufflog und auf sie zustürzte.
    Die Fackeln im Hof und schwarze Flügel am Himmel.
    Erschrocken rannte sie zum Treppenaufgang zurück und schlüpfte hinein.
    Als sie eine kleine Nische entdeckte, krabbelte sie hinein und umklammerte ihre Knie. Sie hörte, wie die Geier näher kamen, sich in den Eingang zur Treppe stürzten und dann wild die Stufen hinabflatterten, wobei sie alles mit sich fortrissen, was sich ihnen in den Weg stellte.
    Sie waren wie ein wilder Sturm.
    Als sie verschwunden waren, kam Rokia aus ihrem Versteck hervor und wischte sich die Tränen der Angst ab.
    »Nein, ich habe nicht geweint, Großvater …«, log sie, während sie die Treppe hinunterstieg. »Es wird alles gut, du wirst schon sehen.«

    Raogo lief durch die Gassen.
    Nach Sonnenuntergang hatten sich die Straßen der Stadt aus Sand geleert und in ein Labyrinth verwandelt, in dem herrenlose Tiere umherstreunten und sich ängstliche Gestalten an den Wänden entlangdrückten. Durch die Straßen fegte ein Wind voller Sand, der wie ein heißer Atemhauch schubweise aus den Toren des Palastes wie aus einem riesigen Schlund zu strömen schien. Die Gassen wirkten wie die dazugehörigen Zungen aus ausgedörrter Erde. Dreckig. Die Häuser waren staubbedeckte weiße Schachteln. Es war vollkommen still, man hörte keine menschlichen Stimmen, weder Geschrei noch Gelächter.
    Nur die Mutigsten, die es wagten, den Palastwachen auf ihren Rundgängen zu trotzen, kamen in Kabirs unterirdischer Kneipe zusammen. Dort unten gab es Musik, Bier und die Möglichkeit, auch nach Einbruch der Nacht noch eine gepflegte Unterhaltung zu führen. Von den Dächern der umstehenden Häuser passten Kabirs Freunde auf, dass sich niemand näherte. Sobald sie die Strohhüte der Wachen entdeckten, würden sie den Ruf der Wüstenrebhühner nachahmen, den man bis ins Lokal hören würde. Daraufhin würden dann alle verstummen, die Musik würde aufhören zu spielen, und man würde alle Kerzen löschen. Die Gäste würden an ihren Getränken nippen und dabei die vor Angst ganz blass gewordenen Gesichter ihrer Nachbarn betrachten.
    Wenn das passierte, stellte Kabir die Gläser ab, schimpfte leise vor sich hin und verfluchte diese Stadt und ihren Herrscher. »Früher oder später wirst du gehen …«, knurrte er dann. »Und ich werde frei auf den Straßen Musik spielen können.«
    Viele dachten so wie er, doch nur wenige schlossen sich Kabirs Knurren an. Sobald ein Signal ertönte, dass die Gefahr vorüber war, kam wieder Leben in das unterirdische Lokal.
    An

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