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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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gerade den Frühstückstisch deckten und dabei Radio hörten. Auch an Wiebkes Zimmertür, hinter der es jetzt, um mittlerweile kurz nach acht, noch verdächtig ruhig war, waren wir vorbeigehuscht. Tatsächlich schien niemand unser Kommen bemerkt zu haben. Zum Glück, denn mir stand momentan wenig der Sinn nach Small Talk und Familienidyll. Wir hatten seit Madame Mafaldas Bungalow geschwiegen, doch nun, da wir hoffentlich außer Hörweite des Schattenreiters waren, mussten wir reden, und zwar dringend.
    Linus stemmte die Hände auf den Rand seines Hochbettes und schwang sich hinauf, während ich nervös zwischen Schreibtisch und Kleiderschrank auf und ab lief und mich noch nicht einmal von herumliegenden Klamotten, leeren Bierflaschen und sich von der Wand schälenden Postern aus dem Konzept bringen ließ.
    »Du hast also einen merkwürdigen Schatten gesehen«, begann ich und bemerkte erschrocken, wie schrill meine Stimme klang. Ich musste mich dazu zwingen, sie zu einem Flüstern zu senken. »Kannst … kannst du ihn vielleicht näher beschreiben?«
    Linus zuckte mit den Achseln. Er war noch immer kreidebleich und saugte an seinem Lippenpiercing. »Ich weiß nicht, da war so ein Fleck ohne richtige Form. Erst dachte ich, es wäre eine Wolke. Aber dann hat er sich bewegt, als wäre er lebendig. Das war jetzt schon das dritte Mal. Verrückt, oder?«
    Ich nickte und spürte, wie sich die Angst in meinem Innern ausbreitete wie flüssiger Stickstoff. Eiskalt und tödlich. »Das dritte Mal?«, fragte ich tonlos.
    »Ja, den ersten habe ich gestern Nachmittag gesehen, als ich mit dem Mountainbike unterwegs war, den zweiten, als ich heute Nacht vor deinem Haus herumstand.«
    Genau so hatte es bei mir auch angefangen. Schatten, die man an den unmöglichsten Orten sah. Zuerst waren sie formlos, später erkannte man nach und nach die Einzelheiten. Linus wurde zum Wandernden! Es war dieser eine Gedanke, den ich immer wieder dachte wie in einer Endlosschleife. Nun würde auch er dieses ruhelose Leben fristen müssen, ein Leben in zwei Welten und doch in keiner wirklich. Du meine Güte! Wie konnte das sein? Warum? Was war geschehen? Wahrscheinlich hatte er deshalb heute Nacht nicht schlafen können. Er war bereits nach Eisenheim gewandert und davon so schockiert, dass er den Rest der Nacht lieber wach geblieben war. Linus ein Wandernder! Es war furchtbar und gleichzeitig … gleichzeitig hasste ich mich dafür, dass da auch ein Funken Erleichterung in mir war. Nun würde ich ihm wenigstens alles erzählen können.
    Ich kletterte die Leiter hinauf und ließ mich neben ihn auf das zerwühlte Bett fallen. Anscheinend hatte Linus wirklich eine unruhige Nacht hinter sich. Wie von selbst griffen meine Hände nach seinen und umschlossen sie fest. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als ich ihm in die dunklen Augen sah.
    Ich räusperte mich. »Hör zu, diese Schatten sind … sie haben etwas zu bedeuten. Weißt du, ich kann sie auch sehen.«
    Linus hob die Augenbrauen. Er zitterte noch immer ein wenig, dennoch gelang ihm ein schiefes Grinsen. »Dann sind wir uns also doch ähnlicher, als du bisher dachtest.«
    Ich seufzte. »Etwas verändert sich an dir, Linus. Wahrscheinlich hast du es schon gemerkt«, sagte ich ernst und überlegte fieberhaft, wie ich es ihm am besten erklären sollte, ohne ihm allzu viel Angst zu machen. »Etwas an der Art, wie du träumst. Ist es nicht so?«
    Verwirrung breitete sich auf seinen Zügen aus, einen kurzen Augenblick nur. Dann grinste er wieder. Sein Gesicht war meinem plötzlich sehr nah. »Ich träume schon lange nur von dir, Flora«, flüsterte er.
    »Nein, nein, das meine ich nicht. Heute Nacht, hast du da nicht etwas Seltsames erlebt? Hattest du nicht das Gefühl, in dem Moment, in dem du eingeschlafen bist, plötzlich zu fallen? Als würdest du von einem Himmel über einer finsteren Stadt stürzen? Einer Stadt, in der alles schwarz-weiß ist, weil es keine Farben gibt?«
    Linus sah mich an. »Eine schwarz-weiße Stadt? So wie in einem alten Film?«, fragte er. Unsere Nasenspitzen berührten sich nun beinahe.
    Ich nickte.
    »Und wenn ich einschlafe, habe ich das Gefühl, vom Himmel zu fallen?«
    »Ja.«
    »Wenn du willst, träume ich sogar davon«, wisperte er, schloss die Augen und –
    »Hey, was soll das?«, zischte ich und stieß ihn so heftig von mir, dass seine Schulter geräuschvoll die Wand zu Wiebkes Zimmer rammte.
    Er blinzelte erschrocken. »Geht’s noch? Ich dachte –«
    »Was

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