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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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schwebte schon hoch über dem Palast. Eine schmiedeeiserne Treppe, die anscheinend genau zu diesem Zweck am Dachfirst des Ostflügels angebracht worden war, führte zu ihm hinauf in die Dunkelheit. Sie schwankte im eisigen Wind wie ein Grashalm und halb erwartete ich, die Stufen würden unter meinen Füßen wegknicken, so zart waren die Verstrebungen der Trittflächen. Der Kanzler hielt meinen Arm jedoch weiterhin unerbittlich, ich hatte keine andere Wahl, als immer weiter mit ihm hinaufzusteigen, auch wenn sich in meiner Magengegend ein tonnenschwerer Klumpen bildete.
    Auf dem Weg zum Ausgang hatte der oberste Befehlshaber der Schattenreiter mich in eine Kammer voller Abendmode geführt und mir die Wahl zwischen Spitze und Volants gelassen. Nun fror ich in einem knielangen Abendkleid, das von einem steifen Hemdkragen geschlossen wurde, den ich so weit wie möglich zugeknöpft hatte. Zwar trug ich um die Schultern eine Art Stola aus weichem Fell, doch meine Beine zitterten und beim Blick in die Tiefe fühlten sich meine Knie verdächtig wie Pudding an, sodass ich kaum noch einen Schritt vor den anderen setzen konnte, weshalb ich mich darauf verlegte, einzig und allein nach oben zu sehen. Auf das Luftschiff.
    Die Zeppeline des … nun ja, öffentlichen Nahverkehrs, die ich bisher gesehen hatte, waren silbern und bauchig gewesen. Das Dröhnen ihrer Motoren hatte die Luft erfüllt wie ein Heer von Kampfdrohnen in einem Science-Fiction-Film. Dieser Zeppelin hingegen hing vollkommen lautlos in der Luft über unseren Köpfen und war von weiter unten wahrscheinlich unsichtbar mit seiner Haut aus schwarzem Lack, die sich kaum vom Himmel über Eisenheim abhob. Auch war er windschnittiger gebaut als die anderen Luftschiffe, länger und schmaler. Die Form erinnerte mich an eine Zigarre. Die Passagiergondel hingegen erschien mir deutlich breiter als die, in der ich mich an meinem zweiten Tag in Eisenheim befunden hatte. Aber vielleicht lag das auch nur an der Innenausstattung: Statt hintereinanderstehenden Bänken mit einem Gang in der Mitte gab es hier nur eine einzige, gepolsterte Sitzgelegenheit, die ellipsenförmig einmal rundherum an der Wand entlangführte.
    »Eine Spezialanfertigung: nur Fensterplätze«, erklärte der Kanzler und ich meinte, eine Spur von jungenhaftem Stolz über sein Gesicht huschen zu sehen. »Sie haben selbstverständlich freie Wahl«, sagte er und wies auf die kinosesselähnlichen Einbuchtungen, während er selbst sich nach hinten an das Steuerrad stellte.
    Ohne zu antworten, wanderte ich langsam über den mit nachtschwarzem Teppich ausgelegten Boden der Gondel zu ihrer Spitze und setzte mich, ein wenig fassungslos drüber, dass der Kanzler anscheinend tatsächlich einen Ausflug mit mir machen wollte und mich bisher weder gewürgt noch sonst irgendwie bedroht hatte. Trotzdem würde ich auf der Hut sein, beschloss ich und bemerkte im selben Augenblick den atemberaubenden Ausblick, der meinen Knien schon wieder Puddingkonsistenz verlieh.
    Unter uns lag die Stadt wie ein riesiges Ungeheuer aus Mörtel, Stein und Stahl. Hausdach reihte sich an Hausdach reihte sich an Schornstein reihte sich an Plätze und Denkmäler, die in der Finsternis glänzten. Am Horizont erkannte ich die Zechen und Fabriken von Schlotbaron. Sie waren hell erleuchtet, fast glaubte ich, den Lärm der Maschinen bis hierher hören und den Qualm, der sich über dem Viertel sammelte wie ein Mahlstrom, riechen zu können. War Linus dort? Irrte er wie ich damals durch die Straßen der Stadt? Oder wanderte er tatsächlich nicht? Ich wusste es nicht.
    Dafür sah ich nun in noch weiterer Ferne das Nichts. Erst jetzt, da ich es von Weitem betrachtete, erkannte ich, wie gewaltig es wirklich war. Beziehungsweise nicht war. Geradezu monströs in seinem Nichtsein. Wie eine schwarze Wand erhob es sich rund um die Stadt. Ein gähnender Titan, der Eisenheim umschlossen hielt und dessen Finger dort, wo er den Stadtteil Schlund bereits verschluckt hatte, schon an den nächsten Häusern kratzten.
    »Furcht einflößend, nicht wahr?«, fragte der Kanzler irgendwo hinter mir. »Diese gänzliche Abwesenheit von allem. Der menschliche Verstand ist nicht dazu geschaffen, es zu begreifen.«
    Ich nickte und bemerkte, dass wir uns längst in Bewegung gesetzt hatten.
    »Mit der Zeit lernt man, es auszuhalten«, sagte er und schwieg einen Moment lang, bevor er weitersprach: »Und waren Sie … Haben Ihre Freunde Ihnen das Backand gezeigt?«
    Es dauerte einen

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