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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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dachtest du?« Ich funkelte ihn an. »Dass ich mit dir hergekommen bin, weil ich mir das mit uns noch einmal überlegt habe? Dass ich nur von Schatten rede, weil ich in Wahrheit von dir geküsst werden will?«
    »Na ja …« Linus senkte den Blick und rieb sich die schmerzende Schulter. »Aber anscheinend lag ich damit falsch.«
    »Allerdings«, sagte ich und rutschte sicherheitshalber noch ein Stück von ihm weg, während er mich genauso hilflos ansah wie in Madame Mafaldas Wohnzimmer. Es war der Blick, mit dem er den Mädchen an unserer Schule reihenweise die Herzen brach.
    »Du meintest also diese Sachen, die du über meine Träume und diese Stadt gesagt hast, ernst?«
    Ich schnappte nach Luft. »Hast du etwa vorhin keinen Schatten gesehen?«
    »Doch. Ich glaube sogar, vorgestern war da auch einer von ihnen, als wir zur Schule gefahren sind. Sie haben mich erschreckt, na und? Trotzdem schlafe und träume ich ganz normal. Klar, diese dunklen Dinger sind schon irgendwie gruselig, aber wahrscheinlich habe ich nur zu viel gefeiert. Ist eben nicht gut, unter der Woche so oft wegzugehen. Die kurzen Nächte, das frühe Aufstehen. Vielleicht liegt es auch am Restalkohol.«
    »Quatsch«, schnaubte ich und überlegte gerade, wie es sein konnte, dass Linus anscheinend seit drei Tagen Schatten sah, jedoch offensichtlich ohne zu wandern, als es klopfte. Die Klinke wurde heruntergedrückt, doch die Tür bewegte sich nicht.
    »Linus? Ich soll dir sagen, dass das Frühstück fertig ist«, drang Wiebkes Stimme gedämpft durch das Holz. »Ist alles in Ordnung? Bist du aus dem Bett gefallen, oder was?«
    »Nein«, sagte Linus, dessen Blick zwischen der zerwühlten Decke und meiner nach dem Regen, in den wir geraten waren, nicht gerade besser aussehenden Frisur hin- und herwanderte. Er grinste mich an. »Flora hat mich geschubst«, verkündete er freudestrahlend. Natürlich, er wusste genau, wie das alles für seine Schwester aussehen würde: Ich, früh am Morgen in seinem Zimmer. In seinem Bett. Kein Wunder, dass er mit einem Schlag bester Laune war. Am liebsten hätte ich Linus erwürgt, doch der sprang bereits fröhlich die Leiter hinab und drehte den Schlüssel herum.
    »Flora? Du bist auch da?«, fragte Wiebke, die den Kopf ins Zimmer steckte und einen Moment brauchte, bis sie mich entdeckte. Sie trug ihren Schlafanzug und hatte sich das ungekämmte Haar zu einem Knoten zusammengedreht. Verschlafen und noch ohne ihre Brille blinzelte sie durch den Raum. Ihre Augen weiteten sich, als sie mich auf dem Hochbett fand.
    Ich seufzte. »Hi«, sagte ich, während Wiebke ihre Schlüsse zog. Ich konnte zusehen, wie die Enttäuschung darüber, dass ich ihr nichts über meine wiederaufflammenden Gefühle für ihren Bruder erzählt hatte, ihre Züge in eine Maske verwandelte. Hatte ich ihr nicht vor Kurzem noch zu verstehen gegeben, dass es Marian war, den ich mochte? Was war ich nur für eine Freundin, die sich innerhalb von zwei Wochen so vollkommen veränderte? Die ihrer besten Freundin plötzlich so viele Dinge verheimlichte?
    »Ich … kann dir das erklären«, stammelte ich.
    Doch Wiebke starrte nur die Wand neben mir an. »Morgen«, sagte sie steif. »Dann … äh … brauchen wir also noch ein Gedeck mehr.«

18
ERINNERUNGEN
    Bis ich in der folgenden Nacht dorthin gerufen wurde, hatte ich nicht einmal geahnt, dass der Buckingham-Palast einen Raum besaß, der sich »Regierungszimmer« nannte. Es handelte sich dabei allerdings weniger um ein Zimmer, sondern um einen Saal, in den unser Wohnzimmer vermutlich fünfmal hineingepasst hätte, was für ein Büro irgendwie unangemessen war. Das Regierungszimmer befand sich im ersten Stock des Westflügels und war lächerlich spärlich möbliert. Außer einem Schreibtisch und einem Stuhl stand nämlich nichts darin.
    Mein Vater erwartete mich hinter einem Berg aus Papieren. Es war das erste Mal seit mehreren Nächten, dass wir uns in der Schattenwelt sahen. So viele Pflichten hatte er als Fürst zu erfüllen, er hatte bisher nicht einmal Zeit gefunden, mich persönlich im Palast oder gar in Eisenheim herumzuführen. Ich hoffte, er würde es heute tun. Ein wenig Zeit nur für uns beide. Zeit, in der ich Fragen stellen und mit ihm gemeinsam nachdenken konnte über mein verwirrendes neues Leben … Bestimmt konnte er mir helfen, Linus’ Seele in Eisenheim aufzuspüren. Oder mir zumindest erklären, warum mein bester Freund plötzlich Schatten sah.
    Aber meine Hoffnungen wurden enttäuscht und

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