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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Sie war eine meiner brillantesten Schülerinnen. Dass ich statt ihrer nun dich bekommen habe, ist wirklich traurig.«
    Ich setzte zu einer zornigen Erwiderung an, schluckte sie dann aber doch herunter. »Aber meine Seele muss doch einen Grund gehabt haben, diese Karte zu zeichnen, die mich zu Ihnen geführt hat.«
    Madame Mafalda wiegte den Kopf, sodass sich ihre Doppelkinne kräuselten wie die Meeresoberfläche, wenn Wind darüberstrich. »Vermutlich«, sagte sie und schob die Zeitschrift noch ein Stückchen weiter zu mir herüber. Das Lösungswort des Kreuzworträtsels lautete »Pyramide«. Im Hintergrund war ein Beduine auf einem Kamel abgebildet, über dem Artikel daneben lächelte irgendeine Königin in die Kamera. Madame Mafaldas Fingerkuppen strichen über den Beduinen und die in der Ferne erkennbaren Pyramiden von Giseh. »Hoffentlich gewinne ich. Die Wüste hat mich schon immer fasziniert.«
    Ich blinzelte, überlegte fieberhaft, was zu tun war. Warum hatte meine Seele mich in der realen Welt zur Schwester des Großmeisters geschickt? Warum, wenn diese nicht mehr wusste als ich selbst? Nein, Madame Mafalda musste etwas wissen. Irgendetwas, was mir weiterhelfen würde.
    »Sie haben gesagt, alle Hoffnungen würden auf mir ruhen. Wie meinten Sie das? Wessen Hoffnungen?«
    »Nun«, begann Madame Mafalda und sah mir direkt in die Augen. »Der Weiße Löwe ist eine Art Meteorit, der vor Jahren vom Himmel über Eisenheim fiel. Und zwar exakt am Tag deiner Geburt. Im Augenblick deiner Geburt.«
    Ich hob die Augenbrauen. »Das bedeutet also …«
    »Oh, möglicherweise bedeutet es rein gar nichts. Vielleicht war es schlicht Zufall. Das haben wir zumindest bis vor ein paar Wochen geglaubt. Doch nun, da ausgerechnet du derart in das Verschwinden des Steins verwickelt wurdest … tja, vielleicht besteht zwischen dir und dem Weißen Löwen doch so etwas wie eine Verbindung.«
    »Was für eine Verbindung?«
    Madame Mafalda seufzte und verdrehte die Augen, als wäre ich ein Kind, dem sie wieder und wieder das kleine Einmaleins erklären musste. »Woher soll ich das wissen?«
    »Aber wer ist ›wir‹? Um welche Hoffnungen geht es denn nun? Bitte–«
    In diesem Moment betrat Linus den Raum. »Ich bin dann so weit fertig«, sagte er, was Madame Mafalda mit einem Nicken quittierte.
    »Gut«, sagte sie und erklärte unser Gespräch damit anscheinend für beendet. »Es wird ohnehin Zeit fürs Frühstücksfernsehen.«
    Beim Aufstehen tippte sie noch einmal auf die Zeitschrift vor meiner Nase, so heftig, dass sich ihr Zeigefinger förmlich in die abgebildete Wüste bohrte. »An 23 quer habe ich fast einen halben Tag lang herumgerätselt. Aber irgendwann bin ich draufgekommen«, erklärte sie mir in eindringlichem Tonfall.
    »Ah ja«, sagte ich und hatte das Gefühl, dass sie nicht nur über das Kreuzworträtsel sprach.
    Schlurfend geleitete Madame Mafalda uns zur Tür. Nur widerwillig folgte ich ihr. Mir war noch immer so vieles unklar, vor allem, warum meine Seele mich hergeschickt hatte. Aber die Schwester des Großmeisters schien meine flehenden Blicke nicht zu bemerken. »Auf Wiedersehen«, sagte sie nicht gerade freundlich und schloss die Tür.
    Kaum hatten wir die Straße erreicht, hörte ich irgendwo über mir den Flügelschlag eines davoneilenden Schattenpferdes. Ich wollte gerade zu einer langen, umständlichen Erklärung über schwierige Kunden im Allgemeinen, umgetauschte Edelfische und einen nicht vorhandenen Teich in der hintersten Ecke von Madame Mafaldas Garten ansetzten, als ich Linus’ bleiches Gesicht bemerkte. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, sein Mund stand offen, die Augen waren schreckgeweitet.
    »Ist alles in Ordnung?«, fragte ich und folgte seinem Blick, der in den Himmel gerichtet war, genauer gesagt auf die Stelle, an der die dunkle Gestalt des Schattenreiters langsam kleiner wurde. Plötzlich war mir eiskalt. »Geht … geht es dir gut? Was ist denn?«, flüsterte ich und spürte, wie mein Körper zu zittern begann, so sehr fürchtete ich mich vor seiner Antwort.
    Es dauerte einen Moment, bis Linus sich aus seiner Erstarrung löste. Dann stand er mit bebenden Schultern vor mir, sah mir so tief in die Augen, dass ich erschauderte.
    »Da war irgendwas«, sagte er ruhig. »Eine Art Schatten.«
     
    Lautlos schloss Linus die Tür seines Zimmers hinter uns. Der Schlüssel klickte leise, als er ihn im Schloss herumdrehte. Wir hatten uns ins Haus geschlichen, vorbei an der Küche, in der seine Eltern

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