Stadt aus Trug und Schatten
meiner Brust und der unbändige Drang, sie zu füllen. Selbst wenn ich gewollt hätte, ich vermochte nicht, mich den Lichtern zu widersetzen. Sie riefen mich zu sich. Ein verheißungsvolles Flimmern in der Finsternis.
Der Druck auf meiner Schulter wurde stärker. Ich fühlte, dass Amadé versuchte, mich zurückzuhalten. Doch das war unmöglich. Wie ferngesteuert setzte ich einen Fuß vor den anderen. Ich folgte dem Licht, bis sich der schmale Gang unvermittelt zu einer Höhle öffnete.
Der Anblick verschlug mir die Sprache.
Noch nie.
Noch niemals hatte ich so etwas gesehen.
Mit zittrigen Fingern fuhr ich mir über die Augen. Blinzelte. Aber das Ding war noch immer da. Es stand im Zentrum der Höhle und hatte in etwa die Größe eines Backofens, nur dass es kein Ofen war, sondern eine Art Kessel. Einer, der von riesigen Flügelschrauben zusammengehalten wurde, als stände er unter Druck. An mehreren Stellen traten Rohre und Schläuche aus ihm hervor, die in Schleifen und Schnörkeln in die Höhe führten, wo sie so etwas wie einen Torbogen bildeten. Nebelschwaden hingen in dem Bogen, waberten umher und gaben dann und wann einen farbigen Lichtstrahl frei, der wie ein exotischer Vogel durch die Höhle flatterte.
Allerdings waren es weder der Kessel noch der Torbogen voller Rauch, die mich anzogen wie ein Magnet, und noch nicht einmal die Lichter. Nein, was mich alles um mich herum vergessen ließ, war eine silberne Halterung am höchsten Punkt des Bogens, gerade so groß, dass man den Weißen Löwen hineinstecken konnte. Und ein Teil von ihm befand sich tatsächlich darin. Grau und unscheinbar lag er dort oben, ein Splitter, nicht länger als mein Fingernagel.
Eine Welle der Wiedersehensfreude überrollte mich. Die Aura der Macht, die von ihm ausging, liebkoste mich und ergriff meinen Geist. Ich fühlte die Anwesenheit dieses winzigen Splitters mit jeder Faser meines Körpers. Er rief nach mir. Und nach dem Stein, zu dem er gehörte. Ich kniff die Augen zusammen und meinte tatsächlich zu sehen, wie der Splitter erzitterte vor Sehnsucht nach dem Weißen Löwen.
Der Weiße Löwe!
Vorsichtig näherte ich mich dem Nebeltor, Zentimeter für Zentimeter, und mit jedem Schritt wurde die Anziehung stärker, die der Splitter auf mich ausübte. Unwiderstehlich. Ich streckte die Hände aus, fuhr mir mit der Zunge über die trockenen Lippen. Gleich hatte ich ihn erreicht. Ich atmete aus, reckte mich und überlegte, ob ich wohl auf den Kessel klettern sollte, um ihn herunterzuholen.
Da entdeckte ich aus dem Augenwinkel heraus die Gestalt. Sie hockte auf der anderen Seite des Tores und hielt etwas in der Hand, was wie ein merkwürdig gebogener Schraubenzieher aussah. Weißblondes Haar hing ihr in die Stirn.
»Was ist das?«, flüsterte ich.
Marian, der mich anscheinend erst jetzt bemerkte, zuckte beim Klang meiner Stimme zusammen. »Das … ist ein kosmologisches Materiophon. Es funktioniert noch nicht richtig, dazu fehlt der Weiße Löwe«, sagte er, stand auf und verschränkte die Arme vor der Brust. Mein Auftauchen kam ihm anscheinend ungelegen, doch das war mir momentan herzlich egal.
»Und wofür brauchst du es?«, fragte ich und trat noch einen Schritt näher an das Ding heran. Erst jetzt spürte ich die Hitze, die von ihm ausging und auf meinen Wangen brannte. Der Kessel musste glühend heiß sein.
»Für nichts«, sagte Marian und starrte plötzlich auf einen Punkt hinter mir. »Okay, mach jetzt keine hastigen Bewegungen, ja?«
Ich schnaubte. »Das glaubst du doch wohl selber nicht! Was soll denn das heißen, für nichts?« Es war, als hätte man mir den Boden unter den Füßen weggezogen.
Marians Augen verengten sich zu Schlitzen. »Na, was es eben heißt«, sagte er. »Meine Eltern haben diese Maschine damals erfunden, um … um etwas zu tun. Doch der Eiserne Kanzler bekam Wind davon und ließ meine Eltern umbringen, um das Materiophon für sich zu haben. Jahrelang hat er daran herumgeschraubt und jetzt fehlt ihm nur noch der Weiße Löwe, dann hat er seinen Durchgang in die reale Welt. Das Licht sucht sich bereits seinen Weg und mit ihm die Farben. Es ist ein Portal, durch das sich die Materienarten und damit ihre Welten vermischen werden, verstehst du, Flora?«
Ich schüttelte den Kopf. Hinter mir ertönte ein scharrendes Geräusch, doch ich beachtete es nicht. Dazu war ich gerade viel zu wütend. Mein Blick wanderte von Marian zum Materiophon und wieder zurück.
»Du hast meiner Seele vorgemacht, du
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