Stadt aus Trug und Schatten
Worte, die Marian sprach. Vor Angst wie versteinert stand ich da und wartete auf den tödlichen Biss, als plötzlich etwas durch die Luft sirrte und Marian mit solcher Wucht am Arm traf, dass er mich losließ. Noch ehe ich begriff, dass das unbekannte Flugobjekt Amadés Materienkiesel gewesen war, tauchte ich seitlich neben dem Ungeheuer weg und rannte los.
Ich spürte Amadé an meiner Seite, als wir den Hauptstollen entlanghasteten. Das Wesen folgte uns nicht, doch wir stürzten davon, als hinge unser Leben davon ab. Was auch gerade geschehen war, mein Verstand weigerte sich, es zu erfassen. Was war nur in Marian gefahren? Was für ein falsches Spiel trieb er mit mir und meiner Seele? Wer stand auf welcher Seite und welches war überhaupt die richtige? Auf keine dieser Fragen fand ich eine Antwort, denn all meine Gedanken stürzten in einen Strudel aus undurchdringlicher Schwärze, bevor ich sie zu Ende denken konnte. Wortlos kletterten Amadé und ich die schier endlose Leiter wieder hinauf und genauso wortlos liefen wir durch die Stadt zurück nach Notre-Dame.
Anderthalb Stunden später saß ich vor Fluvius Grindeauts Kaminfeuer und hielt eine Tasse Tee in der Hand, an der ich mir die Finger wärmte.
»Nun, Flora? Was gibt es denn so Wichtiges?« Der Großmeister musterte mich mit großväterlichem Lächeln. Er wirkte ganz und gar nüchtern, genau wie in der Nacht, in der ich ihm zum ersten Mal begegnet war. Sein Bart war gekämmt, seine sehnigen alten Hände ruhten auf den Armlehnen seines Sessels wie auf einem Thron. In seiner Robe sah er aus wie ein mächtiger Mann. Ein weiser Mann, dem das Schicksal seiner Welt am Herzen lag.
»Es … gibt Neuigkeiten«, sagte ich langsam. »Amadé und ich waren in den Minen. Wir haben einiges herausgefunden.«
Der Großmeister nickte bedächtig. In seinen Augen sah ich, dass er bereits wusste, was ich ihm zu sagen hatte. Dennoch sprach ich es aus. »Meine Erinnerung ist zurückgekehrt«, erklärte ich ihm feierlich. »Morgen Nacht bringe ich Ihnen den Weißen Löwen.«
20
MATERIENSTURM
Am Sonntagvormittag setzte ich mich an meinen Computer und tippte »Pyramiden von Giseh« in die Suchmaschine. Wie zu erwarten, ergab dies mehrere Tausend Treffer. Ich begann mich hindurchzuklicken, denn schließlich wäre es ziemlich dumm gewesen, sich ohne Vorbereitung in die Dinger hineinzuwagen. Bilder von Labyrinthen, Fallen, lebenden Mumien und giftigen Skarabäen spukten vor meinem inneren Auge herum, während ich mich durch die verschiedenen Einträge las. Noch immer war ich wild entschlossen, den Weißen Löwen zu holen und damit der ganzen Geschichte ein Ende zu machen. Sollte Fluvius Grindeaut ihn doch zerstören, dann hätte ich wenigstens endlich meine Ruhe und müsste mich nicht mehr andauernd bedrohen oder hintergehen lassen. Ich würde heute Nacht in die Pyramiden hineinspazieren, nach dem Weißen Löwen suchen und ihn dann ein für alle Mal loswerden, das war der Plan.
Unglücklicherweise stellte sich das Internet als wenig hilfreich heraus. Sicher, es war interessant, dass die Pyramiden von Giseh bereits über 4500 Jahre alt und damit das älteste Weltwunder der Antike waren. Und, wow, obwohl die alten Ägypter damals weder das Rad noch einen Flaschenzug kannten, brauchten sie nur zwanzig Jahre, um die etwa 146 Meter hohe Cheopspyramide aus zweieinhalb Millionen tonnenschweren Kalksteinquadern zu errichten. Aber wie sollten mir diese Infos helfen, mich im Innern der Pyramiden zurechtzufinden? Es gab da zwar ein paar Fotos und auch den ein oder anderen Lageplan, jedoch bedeutete dies noch lange nicht, dass die Pyramiden in der Schattenwelt identisch mit den realen waren. Notre-Dame diente schließlich auch nicht als Kirche.
»Was machst du da?«
Erschrocken schloss ich das Internetfenster und wirbelte herum. »Schon mal was von Anklopfen gehört?«, fauchte ich.
Marian senkte den Blick. »Entschuldigung«, murmelte er. »Ich wollte nur …«
»Was?«
»Na ja, ich wollte mit dir reden. Wegen heute Nacht.«
Ich stand so abrupt auf, dass Marian zurückspringen musste, um nicht von der Lehne meines Schreibtischstuhls in den Magen getroffen zu werden. Schon seit dem Aufstehen hatte ich ihn links liegen gelassen. Kapierte er denn nicht, wie wütend ich war? Er hatte mich belogen und verraten, was scherten mich seine dämlichen Ausflüchte?
Entschlossen stapfte ich zu meiner Zimmertür und hielt sie auf. »Wir haben uns nichts mehr zu sagen«, erklärte ich und stand
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