Stadt aus Trug und Schatten
schönster Regelmäßigkeit wegdrückte. Ich hatte gerade beschlossen, mir eine Tafel Schokolade aus der Küche zu holen, als es geschah: Mein Handy klingelte.
»Linus«, verkündete die Anzeige.
Ich runzelte die Stirn. Wir hatten erst heute Morgen miteinander gesprochen. Ich wusste, er war auch in der letzten Nacht nicht gewandert. Sicher wollte er mich nur schon wieder dazu überreden, mich heute noch mit ihm zu treffen. Ich seufzte. Eine Sekunde lang spielte ich mit dem Gedanken, nicht dranzugehen. Dann tat ich es doch.
»Schatten!«, brüllte Linus in den Hörer. Er klang außer Atem. »Es sind mehrere und sie verfolgen uns. Wiebke kann sie auch sehen.«
Ich sprang auf. »Wo seid ihr? Wie viele sind es? Sind es einfach nur dunkle Flecken oder haben sie eine bestimmte Form?«
»Sie sind riesig. Und sie sehen aus wie …« Er senkte die Stimme zu einem Flüstern. »Pferde mit Flügeln!«
»Schattenreiter!«, entfuhr es mir. Ich stolperte durch die Wohnung, tastete nach der Sichel in meiner Hosentasche, griff nach meiner Jacke und schlüpfte in das erstbeste Paar Schuhe. Im Telefon hörte ich Linus keuchen, er rannte noch immer. Und auch das Schlagen mächtiger Flügel drang durch den Hörer.
Plötzlich war Marian bei mir. Sein Gesichtsausdruck war hart und undurchdringlich. »Die Zwillinge?«, fragte er knapp, in diesem Augenblick ganz Kämpfer des Grauen Bundes.
Ich nickte. »Schattenreiter. Sie verfolgen sie.«
Marian zog sich ein Sweatshirt über den Kopf. »Wo?«
»Wo seid ihr?«, fragte ich noch einmal. »Linus? Sag mir, wo ihr seid!«
»Im … Einkaufszentrum am Limbecker Platz. Wir wollten ins Kino, als diese Dinger aufgetaucht sind. Da sind wir hier rübergelaufen. Wir dachten, wir könnten sie abhängen, aber sie fliegen einfach durch die Leute hindurch.«
»Sie sollen sich irgendwo im Schatten verstecken, bis wir da sind. Da können die Reiter sie nicht sehen«, sagte Marian, der anscheinend mitgehört hatte. Inzwischen hasteten wir durch das Treppenhaus. Ich dachte daran, wie Marian Wiebke und mich im Schulgarten in den Schatten der Mauer gestoßen hatte, und verstand.
»Hör zu«, erklärte ich Linus. »Die Schattenreiter können euch nicht finden, wenn ihr selbst im Schatten seid. Sucht euch irgendein Versteck. Irgendwas, wo es dunkel ist. Wir sind gleich bei euch.«
»Alles klar. Ich melde mich wieder.«
»Okay!« Ich steckte das Handy in meine Jackentasche und spürte, wie ich im selben Augenblick in einen Strudel aus Panik fiel. Was war los? Was wollten die Schattenreiter von den Zwillingen? Und warum konnten die beiden sie überhaupt sehen? Ich hoffte inständig, sie fanden irgendeinen dunklen Winkel, in dem sie sich in Sicherheit bringen konnten. Doch was wäre, wenn wir es nicht rechtzeitig schafften? Mir war mittlerweile übel vor Angst, doch Marian schien es nicht zu bemerken. Er presste die Kiefer aufeinander, den Blick starr nach vorn gerichtet sprintete er neben mir her.
Wie ferngelenkt rannten wir zum Bahnhof, wo wir quälende drei Minuten auf eine S-Bahn in Richtung Innenstadt warteten, fuhren die vier Minuten bis zur nächsten Station und stürzten dann durch die Fußgängerzone. Es war brechend voll, denn anscheinend hatte die Stadt für dieses Wochenende einen dieser verkaufsoffenen Sonntage eingerichtet. Als wäre es der Tag vor Heiligabend, schoben sich die Menschenmassen durch die Straßen, bepackt mit Tüten und Taschen.
Mit einem Mal kamen wir deutlich langsamer voran. Überall versperrten Körper und Einkäufe uns den Weg, das heißt, vor allem mir. Marian schien etwas an sich zu haben, was die Leute dazu bewegte, ihm von sich aus Platz zu machen. Bereitwillig teilte sich die Menge vor seiner grimmigen Gestalt. Unglücklicherweise schlossen sich die Lücken jedoch genauso unvermittelt, wie sie sich auftaten, meist, bevor ich hindurchhuschen konnte. So kam es, dass ich Marian schon nach wenigen Metern aus den Augen verlor und überrascht aufschrie, als er kurz darauf wieder auftauchte und mich resolut an sich zog.
Mit beiden Armen presste er mich an seine Seite, während wir weiterrannten. Mein Kopf lag an seiner Brust, der Stoff seines Pullovers scheuerte über meine Wange und ich konnte seinen Herzschlag hören, dunkel und gleichmäßig. Doch mir blieb keine Zeit, über die Nähe seines Körpers nachzudenken, die ich eigentlich nie wieder hatte zulassen wollen. Nicht nach dem, was letzte Nacht in den Minen geschehen war. Dennoch wehrte ich mich nicht, versuchte
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