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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Achseln. Wieder fühlte ich das Gewicht des Steines, hörte meine eigenen Schritte auf marmornem Boden. »Keine Ahnung. Meine Erinnerung ist seltsam verwischt. Aber ich weiß einfach, dass es so ist. Sie können doch hier auf mich warten, vielleicht nicht mitten auf dem Platz, wo Sie jeder sieht.« Ich deutete auf eine der kleineren Pyramiden, deren Eingang ein breites Vordach bildete. »Wie wäre es dort drüben?«
    Der Großmeister setzte an, mir zu widersprechen, nickte dann aber doch. »Also gut. Ich werde warten«, sagte er und schlurfte in die Dunkelheit.
    Ich wandte mich wieder der Cheopspyramide zu. Mit beiden Händen drückte ich gegen das Portal. Ich dachte an meinen Vater und Marian, Wiebke und Linus, den Eisernen Kanzler und den Weißen Löwen. Lautlos schwang die riesenhafte Tür auf. »Leuchte heller«, raunte ich Sieben zu, den ich dieses Mal nicht im Palast vergessen hatte, und trat ein.
    Die Luft hier drinnen war abgestanden. Staubkörner tanzten in Siebens Glimmen wie ein feiner Nebel und meine Schritte hallten laut durch die Stille. Grabesstille. Wieder tauchten Kammern und Mumien und Fallen vor meinem inneren Auge auf, doch ich wischte diese Gedanken beiseite. Stattdessen blinzelte ich, legte den Kopf in den Nacken und versuchte mich zu orientieren. Langsam gewöhnten sich meine Augen an das Dämmerlicht, ich meinte, tatsächlich marmorne Fußböden zu erkennen, genau wie mein Vater gesagt hatte. Und ich bemerkte, dass ich mich keineswegs in einem Gang oder einer Kammer befand, sondern in einem gewaltigen Raum. So groß, dass sich die Wände bereits wieder in der Finsternis verloren, ehe mein Blick sie erreichte.
    Es war, als hätte man die gesamte Pyramide von innen ausgehöhlt und mit einem hübsch glänzenden Rautenmuster gekachelt. Ein Stück von mir entfernt entdeckte ich etwas, was wie eine Gruppe geduckter Kämpfer des Grauen Bundes aussah. Als ich näher heranging, stellte es sich jedoch als eine von Tüchern verhängte Sitzgruppe heraus. Etwas weiter hinten standen mehrere Schreibtische mit wuchtigen Platten, die von Glaswänden mit Schiebefenstern umgeben waren und mich ein wenig an Bankschalter erinnerten. Unter der Decke, exakt in der Spitze der Pyramide, hing ein monströser Kronleuchter. Seine silbernen Arme schimmerten matt, als Siebens Licht darüber glitt. Ich erkannte Flecken und Spinnweben und erloschene Gaslichter. Ansonsten war der Raum vollkommen leer. Wie eine verlassene Messehalle nach einem Konzert, lange nachdem die Musik verklungen und der letzte Besucher gegangen ist.
    Ich schritt über den Marmor und dachte nach. Viel gab es hier nicht zu sehen. Allerdings bedeutete dies immerhin auch: Allzu viele Versteckmöglichkeiten für den Weißen Löwen bot das Gebäude nicht. Ich ging zu einem der Schreibtische hinüber und zog an der Schiebetür des Glaskastens. Erst jetzt sah ich, dass alle Schubladen herausgerissen worden waren. Papiere lagen auf dem Boden darunter verstreut, achtlos durcheinandergeworfen. Ein Briefbeschwerer war zerbrochen, eine der hölzernen Schreibtischtüren aus den Angeln gerissen worden und in der Staubschicht, die den Boden bedeckte, erkannte ich frische Fußspuren, die nicht meine eigenen waren.
    Rasch wandte ich mich dem nächsten Glaskasten zu. Und dem übernächsten. Doch überall bot sich mir das gleiche Bild der Verwüstung. Die Erkenntnis sickerte in meine Gedanken wie Gift: Jemand war hier gewesen und er hatte etwas gesucht. Der Kanzler. Natürlich.
    Wie hatte ich nur so naiv sein können anzunehmen, ich würde ihm zuvorkommen? Der Eiserne Kanzler kannte das Versteck seit letzter Nacht und er hatte den ganzen Tag über Zeit gehabt herzukommen. Seine Seele wanderte schließlich nicht. Wahrscheinlich hatte er den Weißen Löwen längst an sich genommen!
    Ich kickte eine geborstene Schublade zur Seite …
    … und begriff im selben Moment, dass es nicht so war. Der Kanzler hatte den Stein nicht gefunden, das konnte er gar nicht. Niemand konnte das außer mir. Ja, der Weiße Löwe lag immer noch in seinem Versteck und wartete auf mich, plötzlich war ich mir sicher. Der Stein war hier, ich spürte, dass er da war. Er rief nach mir und ich war gekommen, um mich für immer von ihm zu befreien.
    In der Luft hing mit einem Mal ein Flirren. Eine Art unsichtbares Flackern legte sich über meinen Blick. Die Stille wurde ohrenbetäubend. Schon einmal hatte ich in diesem monströsen Raum gestanden. Ich erinnerte mich …
    Mein Atem ging keuchend und meine

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