Stadt aus Trug und Schatten
diesen Pferde-Monster-Geister-Dingern auf sich hat. Das sind die Schatten, von denen du neulich gesprochen hast, nicht wahr, Flora?«
»Ja.«
»Und Linus sagt, ihr habt gestern früh auch schon einen gesehen und du warst nur deshalb bei uns zu Hause, nicht weil zwischen euch wieder irgendwas läuft?«
»Ja«, sagte ich wieder. Zum wohl hundertsten Mal innerhalb der letzten zwei Minuten fragte ich mich, wie ich den beiden alles beibringen sollte. Was sollte ich überhaupt sagen? Wie viel?
»Bitte, du musst uns erklären, was das zu bedeuten hat, Flora!« Tränen hatten dunkle Linien aus Wimperntusche über Wiebkes Wangen gezogen.
»Das ist nicht so leicht«, begann ich und legte das Kinn auf die Knie. »Das Erste, was ihr Wissen solltet, ist, dass diese Wesen, die Schattenreiter, aus einer anderen Welt stammen. Und es ist vollkommen unnormal, dass Leute, die diese andere Welt gar nicht kennen, sie sehen können.«
Ungläubig starrten die Zwillinge mich an. »Eine … andere Welt, ja?« Linus runzelte die Stirn. »Willst du uns verarschen?«
Ich schüttelte den Kopf, und während mein Blick die Ladenzeile gegenüber immer wieder nach flackernden Schwingen absuchte, berichtete ich meinen Freunden stockend von Eisenheim, meinem Vater und dem Weißen Löwen. Es tat gut, ihnen die Wahrheit zu sagen, der Felsbrocken, den ich nun schon so lange in meiner Brust trug, verwandelte sich langsam in einen mittelgroßen Kiesel. Nur was zwischen Marian und mir vorgefallen war, verschwieg ich, ebenso wie die Ausbeutung der Schlafenden. Linus und Wiebke brauchten schließlich nicht zu wissen, dass ihre Seelen Nacht für Nacht wahrscheinlich in Lumpen gehüllt an irgendeinem Fließband standen und sich für einen Hungerlohn plagten.
Etwa eine Viertelstunde lang redete ich ununterbrochen und die ganze Zeit über starrten die Zwillinge mich mit offenen Mündern an. Fast schon befürchtete ich, sie würden mich im nächsten Augenblick auslachen. Sie mussten mich doch einfach für verrückt halten. Was ich ihnen erzählte, war Wahnsinn, vollkommen abgedreht! Aber als ich geendet hatte, schlang Wiebke die Arme um mich und drückte mich fest an sich.
»Du Ärmste! Da hast du in den letzten Wochen ja ganz schön was durchgemacht. Diese Schattenstadt … und jede Nacht musst du dorthin … Hätte ich diese Schattenpferde nicht selbst gesehen … Das klingt unglaublich. Unglaublich schrecklich.«
»Wenn du mich fragst: Das klingt nach einem verdammten Haufen Scheiße, in den du da hineingeraten bist«, polterte Linus. »Was machen wir denn jetzt?«
Ich seufzte, weil mir Wiebkes Umarmung die Luft abdrückte, und befreite mich vorsichtig. Das Gefühl, niemals zuvor so erleichtert gewesen zu sein, breitete sich warm in meinem Magen aus. Linus und Wiebke wussten nun Bescheid, ich brauchte sie nicht mehr anzulügen! Endlich hatte ich meine besten Freunde wieder!
»Erst einmal warten wir, was Marian herausfindet«, verkündete ich und lehnte den Kopf an das Metall der Rolltreppe über uns.
Doch Linus schien meine plötzliche Ruhe nicht zu teilen. Unruhig lief er in unserem schmalen Versteck auf und ab. »Oder wir unternehmen selbst etwas. Du weißt doch, wie man mit diesen Monstern umgeht, oder?« Linus verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich traue diesem Finnen nämlich immer noch nicht über den Weg. Ganz egal, ob er nun zu dieser Schattenwelt-Sache gehört und dich angeblich beschützen soll oder nicht.«
»Linus!«, mahnte Wiebke und setzte zu einer Standpauke zum Thema unangebrachte Eifersucht in Extremsituationen an, während Linus’ Worte mich wie eine Ohrfeige aus meinem Glückstaumel rissen. Mein Verstand hatte in den vergangenen Minuten anscheinend komplett ausgesetzt.
Denn ich konnte Marian tatsächlich nicht trauen, war ich mir dessen in den vergangenen Tagen nicht allzu bewusst geworden? Und nicht nur das: Hatte ich nicht seit gestern sogar allen Grund zu der Annahme, dass er in Wahrheit mit dem Eisernen Kanzler unter einer Decke steckte? Immerhin hatte er ein Monster auf mich gehetzt. Wer sagte mir, dass er es mit den Schattenreitern nicht genauso machen würde? In meiner Sorge um Linus und Wiebke hatte sich mein Hirn anscheinend in den Stand-by-Modus runtergefahren. Stattdessen hatte ich mich von meinen Gefühlen leiten lassen, denn tief in mir war da noch immer das, was ich für Marian empfand oder was von meinem anderen Ich irgendwann einmal empfunden worden war: Liebe und bedingungsloses Vertrauen.
Oh, wie hatte
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