Stadt aus Trug und Schatten
zu lesen, und flehte die alte Frau, die nun auf mich aufpasste, an, mich hinaus in die Welt zu lassen. Noch immer fühlte ich diese Leere in meiner Brust, so, als fehle ein Teil von mir. Ich ahnte, dass dieser Teil außerhalb meines Gefängnisses lag, und mit der Zeit wuchs in mir ein Plan heran. Ein Plan, der schließlich zur reifen Frucht wurde: Flucht.
Ich kam wieder zu mir, als ich die Wasseroberfläche durchbrach. Schmerzhaft strömte die Luft in meine Lungen. Ich japste, blinzelte mir das Wasser aus den Augen und erkannte, dass ich mich fast in der Mitte des Sees befand. Ich fror so erbärmlich, dass meine Zähne aufeinanderschlugen, doch in meiner Faust lag der Weiße Löwe! Er schmiegte sich in meine Handfläche, als wäre er dafür gemacht worden. Nur an meinem Daumen spürte ich scharfe Kanten, die Stelle, an der der Splitter herausgebrochen sein musste. Endlich hielt ich ihn wieder in den Händen, diesen mysteriösen Stein, nach dem ich mich mein Leben lang gesehnt hatte. Ich war glücklich in diesem Moment und gleichzeitig dabei zu erfrieren.
Mit ein paar kräftigen Schwimmzügen näherte ich mich dem Ufer, bis ich wieder stehen konnte. Dann stieg ich aus dem Wasser, streifte den triefnassen Wollpullover, unter dem ich lediglich ein Leinenhemd trug, ab und wickelte mich in meinen warmen Mantel. Andächtig sank ich in einen Schneidersitz und betrachtete, die Kapuze tief ins Gesicht gezogen, den Weißen Löwen in meinem Schoß.
Noch immer ging ein Wispern von ihm aus und noch immer klang es nach meinem Namen. Mit dem Fingernagel strich ich über die Kanten des seltsamen Kiesels, fuhr seine Maserung nach und versuchte zu ergründen, welche Macht ihm innewohnte und was diese Macht mit mir zu tun hatte.
Viel Zeit blieb mir dazu allerdings nicht, denn plötzlich war ich nicht mehr allein. Von einem Atemzug zum nächsten stand eine Gestalt vor mir und riss mich aus meinen Gedanken.
»Gib ihn mir«, sagte Marian so ruhig, dass ich erschrak.
Ich drückte den Weißen Löwen an meine Brust. »Nein!«
Marian ging vor mir in die Hocke, schob mir die Kapuze aus dem Gesicht und strich dabei eine Strähne meines nassen Haares zur Seite. Dann sah er mir direkt in die Augen. Sein gläserner Blick bohrte sich bis in mein Innerstes. »Du musst ihn mir geben, okay?«, sagte er langsam. »Ich brauche ihn.«
»Nein«, wiederholte ich kaum hörbar.
»Doch.« Seine Hand schnellte hervor, griff nach meinem Handgelenk und dem Stein. Ich schrie auf. Mit aller Kraft hielt ich die Faust geschlossen, während er versuchte, meine Finger zu lösen. Ich zog und trat um mich, doch es war zwecklos, er hielt meinen Arm wie in einem Schraubstock. Und in seinen Augen sah ich die Kraft der Verzweiflung.
»Gib schon her!«, stieß Marian zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Ich bekomme ihn doch sowieso.«
Tatsächlich hatte er es beinahe geschafft. Gleich würde er mir den Weißen Löwen entrissen haben. Ohne darüber nachzudenken, löste ich meine zweite Hand, mit der ich Marians Kehlkopf umklammert hatte, und schob sie in meine Hosentasche. Einen Wimpernschlag später hielt ich die glühende Sichel des Bettlers in meiner Hand. Sofort ließ Marian von mir ab.
Ohne den Blick von ihm zu wenden, drückte ich den Weißen Löwen an mich wie einen Säugling und schob ihn in eine der Innentaschen meines Mantels, während ich die Sichel noch immer kampfbereit hielt.
Marian war bleich geworden. Bleich vor Zorn. »Du willst mich also töten?«, flüsterte er. »Das würdest du tun?«
Ich schnaubte. »Und du willst mir den Stein wegnehmen, um ihn zum Kanzler zu bringen, obwohl du zuvor geholfen hast, ihn aus dem Palast zu stehlen? Das würdest du tun?«
»Natürlich nicht.« Marian presste die Kiefer aufeinander. »Ich würde ihn niemals dem Kanzler überlassen. Das habe ich schon mal gesagt. Ich …« Er seufzte. »Ich brauche den Stein, um ihn in das kosmologische Materiophon unten in den Minen einzusetzen.«
Ich lächelte. »Ach so. Das ist natürlich etwas anderes«, sagte ich und ließ das Lächeln auf meinem Gesicht zu Eis gefrieren. » Vergiss es! «
Wütend standen wir uns gegenüber, jeder an einer Seite des Felsplateaus, während unter uns das leise Plätschern des Sees zu hören war. Noch immer schlugen kleine Wellen gegen das Ufer, so sehr hatte mein Tauchgang die Oberfläche in Bewegung versetzt. Das bläuliche Licht des Stabs tauchte die Grotte in ein merkwürdiges Glimmen und ließ auch Marian anders als sonst
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