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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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Lungen schmerzten, so lange hatte ich nichts anderes getan, als zu rennen. Da war diese mittlerweile schon vertraute Schwere in meinen Händen und das Dach der Pyramide hoch über mir.
    Einen Wimpernschlag lang überlegte ich, den Stein in einem der Schreibtische zu verstecken. Doch dann entschied ich mich anders. Ich spürte förmlich, wie der Weiße Löwe mir etwas zuraunte. Wie er mich dazu aufforderte, tiefer in die Finsternis am Rande meines Blickfeldes hineinzugehen.
    Wie von selbst folgte ich meiner Erinnerung in die Dunkelheit. Unaufhaltsam näherte ich mich der rückwärtigen Wand der Pyramide und dem Schatten, in dem sie lag. Das Flirren verstärkte sich mit jedem meiner Schritte und wurde allmählich zu einem Wispern. Mit allen Fasern meines Körpers tauchte ich ein in die Schwärze, die selbst von Sieben kaum noch erhellt wurde.
    Dann blieb ich abrupt stehen und legte meine Hand auf eine der Bodenplatten. Meine Finger strichen über den Marmor. Er war glatt und hart. Ich fühlte die Kälte, die von ihm ausging, und ertastete etwas Rundes. Einen Ring.
    Kaum hatte ich ihn umfasst, glitt die Platte beiseite und gab den Zugang zu einer Wendeltreppe frei, die steil in die Tiefe zu führen schien. Doch ich zögerte nicht. Im selben Augenblick, in dem die Öffnung erschienen war, hatte sich das Wispern verändert. Es war zu einem Murmeln geworden, einem Rauschen, das immer wieder die gleichen Silben formte: Flo-ra! Flo-ra! Mein Name lag in der Luft, kaum mehr als ein Zischen im Dunkel. Unwiderstehlich.
    Rasch stieg ich die Stufen hinab und erreichte kurz darauf einen weiteren Raum. Er war beinahe ebenso riesig wie die Pyramide darüber. Allerdings schien er nicht von Menschenhand errichtet worden zu sein. Ich stand auf einem breiten Gesteinsvorsprung und sah mich um. Nirgendwo waren Kalkstein oder Marmor zu erkennen. Wände und Decke bestanden aus Fels, genau wie der Boden unter meinen Füßen. Grau und alt und unregelmäßig wölbte sich die Grotte über einer dunklen Ebene, die dalag wie schwarzer Lack.
    Es dauerte einen Moment, bis ich begriff, dass es ein See war. Im Grunde wurde es mir erst klar, als ich einen Fuß hineinsetzte. Das Wasser war eisig, doch das störte mich nicht. Ich warf meinen weiten grauen Mantel ab und ging einfach weiter. Schon reichten mir die dunklen Fluten bis zur Hüfte. Mein eigener Name dröhnte in meinen Ohren. Ich wusste längst, dass es der Stein war, der mich lockte. Ein Ruf, dem zu widersetzen ich weder fähig noch willens war. Ich holte tief Luft, dann tauchte ich unter.
    Der Weiße Löwe erwartete mich am Grund des Sees.
    Und ich würde kommen, um ihn zu holen. Blind schwamm ich durch die Kälte, die mich umgab wie flüssiges Eis. Meine Haut brannte und meine Arme schmerzten mit jedem Zug, den ich tat. Es war mir egal.
    Ich weiß nicht, wie lange ich die Luft anhielt, doch meine Fingerspitzen stießen erst auf den felsigen Grund des Sees, als ich das Gefühl hatte, jede Sekunde das Bewusstsein zu verlieren. Aber es war nicht nur der Sauerstoffmangel, der mich schwindelig machte, es war auch die unmittelbare Nähe des Weißen Löwen. Ich sah ihn nicht, aber ich fühlte ihn. Direkt unter mir. Verborgen im Fels.
    FLORA! FLORA! FLORA! Mein Name gellte in meinen Ohren. Meine Lungen explodierten.
    Wie damals, als ich durch die Fensterscheibe unseres Klassenzimmers getreten war, streckte ich die Hände aus. Als wäre ich ein Schatten, glitten sie durch das Gestein und schlossen sich um … ihn!
    Erinnerungen trafen mich wie Donnerschläge.
    Ich war noch ein kleines Mädchen und lebte in einem Turm am äußersten Ende Eisenheims. Von meinem Fenster aus konnte ich in der Ferne das Nichts sehen. Ich beobachtete die Menschen auf den Straßen unter mir und ich spürte diese Sehnsucht nach dem Weißen Löwen, ohne zu wissen, was sie bedeutete. Niemals durfte ich den Turm verlassen. Niemals mit anderen Kindern spielen. Da war einzig und allein diese Frau, deren Gesicht ich nicht kannte, weil sie stets eine Maske aus weißem Gips trug. Nur ihre Augen waren durch sie zu sehen, blitzende helle Augen, die mich anlachten oder mir zürnten, wenn ich ungehorsam war.
    Die Dame!
    Die Dame, die eines Tages spurlos verschwand. Ich war sieben Jahre alt, als sie mir die Geschichte von einem verwunschenen Stein erzählte, der in der Nacht, in der ich geboren worden war, vom Himmel fiel. Von da an wusste ich, wonach ich suchte.
    Die Jahre vergingen. Ich hörte auf mit Puppen zu spielen, begann, Bücher

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