Stadt aus Trug und Schatten
entgegenstreckte.
»Sieh dir das an«, murmelte er und öffnete sie.
Blaue und gelbe Ascheflocken rieselten zu Boden. Sie zerfielen zu Staub, kaum dass sie die glänzenden Fliesen berührten.
»Bei den anderen beiden war es das Gleiche.«
»Was …?«, fragte ich.
Doch Marian zuckte mit den Achseln, sein Blick blieb hart und verschlossen. »Es ist das Portal, Flora. Die Materienarten vermischen sich bereits. Noch nicht sehr, dazu reicht die Kraft des Splitters nicht aus. Aber gerade genug dafür, dass die Schattenreiter des Kanzlers für diejenigen Schlafenden sichtbar und spürbar werden, auf die er sie ansetzt.«
»Ansetzt?« ,stammelte ich. »Du meinst, er hat seinen Leuten befohlen –?«
Marian nickte, bevor ich meine Frage beenden konnte.
»Was hat das zu bedeuten?«
»Keine Ahnung«, sagte Marian und plötzlich war da ein kaltes Lächeln auf seinen Zügen. »Und selbst wenn, wie hast du es doch vorhin noch so treffend formuliert: Wir beide haben uns nichts mehr zu sagen, nicht wahr?«
Ich schnaubte. »Sag mal, spinnst du? Es geht hier um meine Freunde!«, rief ich, doch Marian hatte sich bereits abgewandt. Wortlos schwebte sein Schatten davon, während Wiebke zaghaft eine Hand auf meine Schulter legte.
»Äh, mit wem redest du da?«
»Mit Marians Schatten«, sagte ich und seufzte. »Wir wissen zwar immer noch nicht, was die Schattenreiter von euch wollten, aber ihr seid zumindest vorerst in Sicherheit.«
Grinsend trat Linus ins Licht hinaus. »Und ihr beiden streitet euch, stimmt’s?«
Ich schwieg, während Wiebke ihren Bruder in die Seite knuffte. »Sei nicht so schadenfroh, Mann.«
»Bin ich doch gar nicht. Habt ihr Lust auf einen Karamellmacchiato?«
21
DER WEISSE LÖWE
Auch wenn ich sie noch so gern aufgehalten hätte, die nächste Nacht kam und mit ihr der Schlaf und die Zeit, meinen Entschluss in die Tat umzusetzen. Nun, da die Schergen des Kanzlers sogar meine Freunde bedroht hatten, war es schließlich dringlicher denn je, dass ich der Jagd nach dem Weißen Löwen ein für alle Mal ein Ende setzte. Ganz egal, wer bei dieser Geschichte was bezweckte.
Eisenheim empfing mich mit seinem eisigen Atem.
Fluvius Grindeaut höchstpersönlich begleitete mich durch die Stadt. Der Großmeister trug die Kapuze seines grauen Mantels tief ins Gesicht gezogen und legte ein strammes Tempo vor, das ich ihm in seinem fortgeschrittenen Alter gar nicht mehr zugetraut hätte. Vor allem, da er in den Armen eine hölzerne Truhe trug, in der er, wie er mir erklärt hatte, die Werkzeuge und Materialien aufbewahrte, die er zum Zerstören des Steins benötigen würde.
Gemeinsam hasteten wir durch die Straßen, während sich der Nachthimmel über uns und die Stadt spannte wie eine Schneekugel aus schwarzem Glas. Unter ihm kam ich mir so winzig vor, als wären der Großmeister und ich nichts weiter als zwei verlorene kleine Punkte. Dass ausgerechnet wir auf dem Weg waren, etwas so Mächtiges und Wertvolles wie den Weißen Löwen an uns zu bringen, erschien mir fast schon unglaublich. Und doch war es so.
Wir durchquerten Krummsen und Graldingen auf verschlungenen Wegen, für den Fall, dass uns jemand folgte, und erreichten schließlich das Ufer des Hades. Vorbei an den raupenförmigen Hallen, in denen die Zeppeline untergestellt wurden, liefen wir am Wasser entlang, bis sie vor uns emporwuchsen, dreieckig und dunkel. Die Pyramiden von Giseh.
Aus der Nähe betrachtet wirkten sie noch viel bedrohlicher, als ich es mir vorgestellt hatte. Wie schlafende Dämonen aus Staub und Stein. Das Wasser des Flusses fraß an ihren Fundamenten, der Geruch von Fäulnis wehte uns entgegen. Fluvius Grindeaut führte mich einmal um den Komplex herum bis zur Vorderseite der Cheopspyramide. In ihre Front war ein Portal aus geschnitztem Eichenholz eingelassen, dessen Flügeltüren eher zum Eingangsbereich einer britischen Bank als zu einem antiken Bauwerk gepasst hätten.
»Nun«, sagte der Großmeister mit brüchiger Stimme. »Dort wartet er also auf uns.«
Ich nickte. »Sieht ganz so aus.«
Der Großmeister legte eine Hand gegen die Tür und wollte sie aufstoßen, als ich ihn plötzlich zurückhielt. Erinnerungsfetzen wirbelten in meinem Kopf umher. Ich sah diese Tür, ich spürte den Stein in meiner Hand. »Bitte«, sagte ich. »Wenn ich ihn finden will, dann … dann muss ich allein gehen.«
»Weshalb?« Fluvius Grindeaut musterte mich, in seinen in Nestern aus Runzeln sitzenden Augen glomm Skepsis auf.
Ich zuckte mit den
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