Stadt aus Trug und Schatten
aber doch und mit der plötzlichen Stille brachen wahre Gedankenstürme über mich herein. War ich jetzt in Sicherheit? Hatte ich das alles überhaupt wirklich gesehen und erlebt? Der alte Mann, Marian, die Stadt, das fliegende Auto, der Ölgeruch, die geflügelten Pferde, der Bettler … Ich konnte es mir nicht vorstellen, immerhin war ich nun wieder hier, zu Hause in meinem Zimmer. Doch alles hatte sich so echt angefühlt, nicht unlogisch zusammenfantasiert. Und hörte man so etwas nicht öfter? Wiebke hatte erst neulich davon erzählt, wie sie als Kind geträumt hatte, fliegen zu können. Das war ihr damals so wirklich vorgekommen, dass sie es anschließend mit einem Sprung vom Gartenhäuschen ausprobiert (und sich den rechten Arm gebrochen) hatte. Irgendwie hatte ich trotzdem das Gefühl, mein Traum wäre etwas Besonderes gewesen. Anders als normale Träume.
Verstohlen betastete ich die Stelle an meiner Schulter, an der mich Filibert, die Monsterechse, erwischt hatte, und fühlte mich gleich besser. Denn dort war absolut nichts. Nicht einmal die Spur eines Kratzers. Ich atmete auf. Alles war wie immer. Ein ganz normaler Tag. Schon hörte ich Christabel mit energischen Schritten in Richtung Badezimmer stapfen und im Zimmer meines Vaters schien sich etwas zu regen. Höchste Zeit, dass auch ich aufstand. Es kostete mich enorme Willenskraft, die Decke zurückzuschlagen und in meine Pantoffeln zu schlüpfen. Alles ist wie immer, sagte ich mir noch einmal. Das hier ist ein ganz normaler Morgen.
Dennoch zögerlicher als sonst machte ich mich auf den Weg in die Küche, wo ich ein Chaos vorfand, wie wir es lange nicht mehr gehabt hatten. Tomatensoße klebte auf Ceranfeld und Fußboden und natürlich hatte niemand die Töpfe und Teller vom Abendessen abgeräumt. Aber das war ja auch schon seit Jahren meine Aufgabe, ich wunderte mich also gar nicht mehr, sondern schaltete das Radio und die Kaffeemaschine ein und machte mich daran, die Spülmaschine zu beladen.
»Verdammt!«, hörte ich meinen Vater kurz darauf wie jeden Morgen im Wohnzimmer fluchen. Bewaffnet mit Handfeger und Kehrblech ging ich zu ihm und fegte das Fischfutter zurück in die Dose, die er heute neben der Heizung hatte fallen lassen. Meistens glitt sie ihm schon beim ersten Becken aus der Hand, dass er es bis hierhin geschafft hatte, war ein gutes Zeichen. Er hatte anscheinend nicht den größten Teil der Nacht wach gelegen und Sudokus gelöst, wie er es sonst häufig tat, wenn er nicht einschlafen konnte.
»Wir müssen mal neues besorgen«, sagte ich mit einem kritischen Blick auf all die Fusseln zwischen den braunen und orangefarbenen Fitzeln des Futters. Wir hatten es mittlerweile schon so oft vom Boden aufgeklaubt, dass mehr Staub als Futter in der Dose war. Nicht sehr appetitlich, das fanden wohl auch die Clownfische, die das an der Wasseroberfläche treibende Gemisch misstrauisch beäugten. »Langsam nehmen sie es dir übel, Papa.«
»Mhm«, machte mein Vater und ließ sich in seinen Sessel fallen. Gerade noch rechtzeitig rettete ich seine Brille von der Sitzfläche. »Danke, Flora«, seufzte er und schloss die Augen. Obwohl er gerade erst aufgestanden war, brauchte er bereits die erste Pause des Tages. Erschöpft legte er den Kopf in den Nacken.
Wiebke war bis heute überzeugt, dass mein Vater ein absoluter Morgenmuffel war. Seit er uns in der Grundschule mal um sieben Uhr morgens zum Sportfest gefahren hatte und dabei achtmal falsch abgebogen war, beharrte sie auf dieser Meinung (na ja, zwischendurch fing sie immer mal wieder von ihrer Theorie einer Entführung durch Aliens an, die meinen Vater in einen von ihnen verwandelt haben sollten).
Aber ich wusste es besser. Mein Vater war kein Morgenmuffel und auch kein Außerirdischer. Er war er und immer so wie jetzt, 24 Stunden am Tag. Denn ihm haftete etwas an, was dafür sorgte, dass ihn schon die einfachsten Dinge des Alltags schlicht überforderten. Wenn er einen Vortrag über die Pflege von Seeanemonen hielt, mochte er die Kompetenz in Person sein, doch wenn es um die Bedienung des Backofens ging, schien sein Verstand zu verlöschen wie das Licht einer Kerze. Es grenzte an ein Wunder, dass er die Nudeln hinbekommen hatte.
»Ich hole dir erst mal einen Kaffee«, erklärte ich.
Mein Vater nickte schwach und wirkte dabei trotz seiner beachtlichen Körpergröße beinahe zerbrechlich. Als wäre er aus Papier und nicht aus Fleisch und Blut. Ein Mann aus Pergament, der ausgeschnitten, angemalt und
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