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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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zurechtgefaltet worden ist und nun versucht, ein Mensch zu sein, dachte ich und trat in den Flur, wo ich gerade noch Christabel begegnete. Sie war kaum geschminkt und trug bereits ihren Mantel und altmodische Pumps. Es war Freitag, da ging sie zum Sport.
    »Ach, guten Morgen, Engelchen«, sagte sie und deutete im Gehen auf den gefüllten Thermokaffeebecher in ihrer Hand. »Danke. Ich muss los.«
    »Bis später«, sagte ich, während Christabel mitsamt ihrer enormen Krokoledertasche verschwand, aus der ein Zipfel ihres Karateanzugs hervorlugte. Zurück in der Küche befüllte ich meinem Vater ebenfalls einen solchen Becher und brachte ihn ins Wohnzimmer. Auch für mich wurde es nun langsam Zeit. Doch als ich ins Bad gehen wollte, bemerkte ich, dass dieses bereits wieder besetzt war. Von drinnen war das Plätschern der Dusche zu hören. Marian!, schoss es mir durch den Kopf. Natürlich, er wohnte immer noch bei uns, ich hatte gar nicht mehr daran gedacht. Fremde gab es bei uns schließlich nicht. Und dass einer von ihnen unser Bad benutzte, war mir bis gestern noch ungefähr so wahrscheinlich erschienen wie ein Meteoriteneinschlag in unserem Hinterhof. Mein morgendlicher Zeitplan war darauf einfach nicht abgestimmt.
    »Ey, da drin!« Ich hämmerte gegen die Tür. »Beeil dich mal ein bisschen.«
    Leider schien Marian meine Bitte nicht zu verstehen. Oder fünfzehn Minuten zu duschen war das, was er unter schnell verstand. Jedenfalls dauerte es viel zu lange, bis er in einer Wolke aus Fichtennadelduschgelduft aus dem Bad kam. Ich konnte mir gerade noch das Gesicht waschen und die Zähne putzen, so ein Mist. Ich würde mich im Bus kämmen und darauf hoffen müssen, mein Haar auch ohne Spiegel einigermaßen bändigen zu können. Vor allem bei einer gewissen Stirnlocke war ich mir nicht so sicher, ob es klappen würde, aber ich hatte keine andere Wahl. Rasch schlüpfte ich in Turnschuhe und Jacke, griff meinen Rucksack und rannte auch schon durch das Treppenhaus nach unten.
    Erst auf der Straße bemerkte ich, dass Marian es mir nachgetan hatte, als er plötzlich neben mir auftauchte. Eine Weile liefen wir nebeneinanderher und ich wünschte mir, er würde sich in Luft auflösen. Nach meinem Traum letzte Nacht machte mich seine Anwesenheit nervös.
    »Ist es weit bis zur Schule?«, fragte er schließlich.
    Ich nickte knapp und versuchte, mir nicht anmerken zu lassen, wie geschockt ich war. Marian war ein Austauschschüler, er kam mit zur Schule, klar. Wieso hatte ich nicht daran gedacht? Irgendwie funktionierte mein Gehirn heute nicht richtig. Vielleicht, weil mir die schwarz-weiße Stadt nicht aus dem Kopf ging. Oder weil ich meinte, hinter jeder Mülltonne und in jedem Hauseingang weitere Schatten zu sehen. Erst im Bus wurde ich ruhiger, wenn auch nur ein wenig. Das vertraute Dröhnen des Motors, die Gesichter der anderen Fahrgäste und der Geruch der staubigen Sitze gaben mir das Gefühl, alles sei wie immer.
    Alles bis auf Marian natürlich, der mir gegenübersaß und seelenruhig einen Liter Vollmilch direkt aus eben dem Karton trank, der bis vor ein paar Minuten noch neben dem Orangensaft in unserem Kühlschrank gestanden hatte. Wirklich dreist, dass er sich einfach bedient hat, überlegte ich. Doch als der Bus kurz darauf durch ein Schlagloch donnerte und so für einen ansehnlichen Milchfleck auf Marians Sweatshirt sorgte, fand ich es schon ein bisschen weniger schlimm. Die ersten Sonnenstrahlen fielen durch das Fenster auf mein Gesicht, und während Marian an seinem Pullover herumrieb, fiel mir zum ersten Mal auf, dass es ein Mensch war, der dort vor mir saß.
    Bisher hatte ich ihn lediglich als unsympathischen Störfaktor wahrgenommen. Marian, der ungebetene Gast, der auf einem Klappbett im Arbeitszimmer schlafen sollte. Marian, der mich bis in meinen Traum hinein verfolgt hatte. Marian, der das Bad besetzte. Doch er war kein Ding. Er war ein Junge. Nein, eigentlich war er ein Mann. Im Tageslicht betrachtet schätzte ich ihn eher auf zwanzig als auf siebzehn, vielleicht sogar noch älter? Und er wirkte seltsam verhalten. Noch immer rieb er über den Stoff seines Sweatshirts, obwohl der Fleck kaum noch zu sehen war. Seinen Bewegungen wohnte eine unterschwellige Energie inne.
    Seine Hände waren groß und schwielig, das sah ich jetzt. Beinahe schon aggressiv bearbeiteten sie den Stoff und erweckten dabei zugleich den Eindruck, behutsam zu sein. Ja, Marian selbst, sogar die Art, wie er saß, wirkte behutsam. Vorsichtig,

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