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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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ganze Büschel seines borstigen Haares ausgerissen. Er machte einen erbärmlichen Eindruck, doch er lächelte, als wäre er zur Abwechslung mal jemand, der mich nicht umbringen wollte.
    »Guten Abend, die Dame«, sagte er und gab sich zerknirscht: »Hätten Sie Ihren Besuch in meiner bescheidenen Behausung doch angekündigt, jetzt habe ich nichts, was ich Ihnen anbieten kann. Nichts als Asche natürlich. Feinste frische Asche zwar, aber doch nicht jedermanns Geschmack.« Mit einer flinken Handbewegung klaubte er etwas Pulvriges vom Boden auf und ließ es sich in den Mund rieseln. »Ich persönlich finde sie ja vorzüglich«, nuschelte er kauend. »Es gibt nichts Besseres.«
    »Äh«, sagte ich.
    »Oh, verzeihen Sie«, rief er, wischte sich die Hand an der Jacke ab und streckte sie mir entgegen. »Mein Name ist Barnabas.«
    Zögernd schüttelte ich die noch immer schmutzige und, wie mir auffiel, eiskalte Hand. »Äh, Flora«, stammelte ich. »Ich heiße Flora.«
    »Angenehm.«
    Ich schwieg und lauschte einen Moment lang, ob das fliegende Pferd zurückkehrte. Doch alles blieb still.
    »Keine Angst«, sagte Barnabas, der meinen Blick auffing. »Die haben jetzt genug mit dem Schichtwechsel zu tun. Fürs Erste sind wir hier in Sicherheit.«
    Erleichtert ließ ich mich gegen die Wand sinken und betrachtete meine Umgebung genauer. Der Raum war größer, als ich zuerst angenommen hatte, im hinteren Teil erkannte ich einen Haufen Lumpen, der dem Bettler (für einen solchen hielt ich ihn jedenfalls) anscheinend als Schlafplatz diente. Der gesamte Boden war von einer fingerdicken Ascheschicht überzogen.
    »Wohnen Sie hier?«, fragte ich.
    »Mehr oder weniger. Eher weniger«, meinte Barnabas.
    Ich nickte, während er sich eine weitere Handvoll Asche in den Mund schob und diese genüsslich verzehrte.
    »Und Sie, meine Dame? Was treibt Sie hierher?«, fragte er und leckte sich die Finger ab.
    Tja, was trieb mich hierher? Was war dieses »Hier« überhaupt? Ich schlang die Arme um die Knie und starrte auf die grauschwarze Unterseite der Treppe, die das Dach unseres Verstecks bildete.
    »Ich … weiß es nicht«, sagte ich schließlich ehrlich. »Das ist, glaube ich, einer meiner Träume, der zweite, um genau zu sein. Ich bin eingeschlafen und war plötzlich in dieser Stadt und –«
    »Verstehe«, fiel mir Barnabas ins Wort und verschränkte die Arme vor der Brust. »Sie sind neu.« Einen Moment lang schien er nachzudenken, dann bedachte er mich mit einem seltsamen Blick. Ich spürte, wie er meine Kleidung musterte, anscheinend etwas bemerkte, was ihm bisher nicht aufgefallen war. Ein lauernder Ausdruck huschte über sein Gesicht, nur ganz kurz. Schon lächelte er wieder. »Als Sie hier ankamen, hat Sie da denn niemand erwartet?«, erkundigte er sich freundlich.
    Ich biss mir auf die Lippe. War Weglaufen etwa ein Fehler gewesen? Ich wusste es nicht, ich hatte das Gefühl, ohnehin viel zu wenig zu wissen. Marians Gesicht erschien vor meinem inneren Auge, bleich und hart. »Wir helfen dir«, hatte er gesagt. Dabei brauchte ich gar keine Hilfe. Oder etwa doch? Nein, das alles war schließlich nur ein Traum. Ein blöder, gruseliger Traum, aus dem ich früher oder später aufwachen würde.
    »Oh«, sagte Barnabas. Er deutete mein Schweigen anscheinend falsch. »Nun, das kann schon passieren. Manchmal kommt es in den Minen, wie soll ich sagen …« Der Bettler räusperte sich. »Es kommt zu Unfällen mit ihr. Und in seltenen Fällen bemerken die Aufseher nicht, dass ein Arbeiter dabei aufgeweckt wurde.«
    »Unfälle womit?«, fragte ich. »Und aufgeweckt? Was soll das heißen?«
    Barnabas’ Lächeln wurde breiter, doch mir fiel auf, dass es seine Augen nicht erreichte. Noch einmal schüttelte er meine Hand, dieses Mal mit deutlich festerem Händedruck. »Willkommen«, sagte er feierlich. »Willkommen im Reich der Schatten, in Eisenheim, der Stadt der wandernden Seelen.«

4
FINSTERE JÄGER
    Wandernde Seelen, dachte ich noch, da riss mich ein durchdringendes Piepsen aus dem Schlaf. Mein Wecker? Konnte das sein? Das Geräusch kam mir ohne Zweifel bekannt vor. Und es wurde lauter. Vor mir sah ich verschwommen das Gesicht des Bettlers, der mir zum Abschied zunickte, dann schlug ich die Augen auf und lag in meinem Bett. Fassungslos starrte ich an die Zimmerdecke.
    Einen Moment lang war ich zu perplex, um den fiependen Wecker auszuschalten, der mittlerweile ein Theater veranstaltete, als wäre er kurz davor zu explodieren. Dann gelang es mir

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