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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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kontrolliert. Beinahe perfekt balancierte er das Schaukeln des Busses aus, bleich und gerade, wie eine Statue aus weißem Marmor. Plötzlich fragte ich mich, wie er sich fühlte, so ganz allein in einem fremden Land und mit einer Gastfamilie, die diesen Namen eigentlich gar nicht verdiente. Wir hatten ihm wahrlich keinen freundlichen Empfang bereitet. Besonders ich nicht.
    »Lass gut sein«, sagte ich. »Wenn man es nicht weiß, fällt es gar nicht auf.«
    Er hielt inne und hob den Kopf. »Meinst du?«, fragte er. Im Blick seiner grünen Augen lag etwas, was mir gestern noch gar nicht aufgefallen war, etwas Dunkles, Gehetztes. Etwas, was nichts mit meinem bisherigen Verhalten oder etwas so Banalem wie dem Gefühl, fremd zu sein, zu tun hatte. Doch nicht seine Augen waren es, die mich in ihren Bann zogen, sondern seine Lippen. Der Schwung seiner Oberlippe löste etwas in mir aus. Ein warmes Gefühl. Es war … die Erinnerung an einen Kuss! Nein, das konnte nicht sein. Hatte ich das gerade wirklich gedacht? Ich zwang mich, aus dem Fenster zu sehen. Was auch immer mit mir los war, allmählich begann ich mir ernsthafte Sorgen zu machen. Das mit der Hirnkrankheit erschien mir jedenfalls immer weniger abwegig. Meine Güte, warum konnte dieser Morgen nicht einfach normal sein? Ich schluckte und bemerkte, dass Marian mich anstarrte. Er wartete auf eine Antwort.
    »Äh, klar«, murmelte ich und warf ihm einen Seitenblick zu. Plötzlich machte mich seine Gegenwart nervös. »Du … kommst also aus Südfinnland, ja?«, versuchte ich die peinliche Stille zu durchbrechen.
    Er nickte. »Zuletzt war ich auf einem Internat in der Nähe von Helsinki.« Sein Akzent klang hart und doch seltsam melodisch.
    »Hast du dort so gut Deutsch gelernt?«
    »Nein, das konnte ich schon vorher. Meine Pflegeeltern sind deutsche Diplomaten. Zu Hause haben wir eigentlich immer deutsch gesprochen, und wenn wir im Ausland gelebt haben, war ich meistens auf einer deutschen Schule.«
    Pflegeeltern? »Ach so. Was ist mit deinen richtigen Eltern?«, fragte ich so taktlos, dass ich mir im nächsten Augenblick am liebsten die Zunge abgebissen hätte. Das Blut schoss mir in die Wangen. »Ich meine, du musst natürlich nicht darüber reden. Es wird schon einen Grund haben, dass du … ich meine …«
    Mit einem Mal grinste er mich an. »Schon gut, ich weiß, du trägst dein Herz auf der Zunge«, sagte er und wirkte amüsiert und fasziniert zugleich. »Allerdings habe ich noch nie gesehen, wie du rot geworden bist. Das lässt dich so lebendig aussehen.«
    Ich runzelte die Stirn. »Natürlich hast du das noch nie gesehen. Wir kennen uns erst seit gestern. Und wir müssen hier übrigens aussteigen.«
    »Mhm«, machte Marian und betrachtete noch einen Wimpernschlag lang meine linke Wange. Dann stand er auf.
    Gemeinsam warteten wir am Hauptbahnhof auf die U-Bahn, in der Wiebke und Linus saßen. Ich wippte auf den Zehen auf und ab, weil mir schon wieder ein bisschen kalt war. Ein paarmal spürte ich, wie Marian mich musterte, dann räusperte er sich plötzlich.
    »Hör mal, wegen letzter Nacht«, begann er und ich spürte, wie der winzige Funke aufkeimender Freundschaft, den ich eben noch empfunden hatte, mit einem Schlag verpuffte. Ein Eisklumpen bildete sich in meiner Magengegend. Letzte Nacht? Ich starrte ihn an. »Ich … wollte dich nicht erschrecken«, sagte er und rieb sich über das Kinn. »Und ich hätte dich nicht einfach festhalten dürfen. Das war … ich habe nicht richtig nachgedacht. Entschuldige bitte.«
    Die Anzeigetafel kündigte die Ankunft der U-Bahn an. Schon war das Zischen der Räder auf den Gleisen zu hören, die Oberleitung knackte und der Zug brauste um die Ecke. Erst als sich die Türen vor uns öffneten und ich dahinter Wiebkes dunklen Schopf erkannte, gelang es mir, meine versteinerte Zunge vom Gaumen zu lösen.
    »Ich habe keine Ahnung, wovon du redest«, sagte ich kühl. »Letzte Nacht habe ich geschlafen wie ein Stein.«
    »Aber –«, sagte Marian.
    Ich ließ ihn nicht ausreden. Was immer er mir zu sagen hatte, mein Verstand weigerte sich, ihm zuzuhören. So schnell ich konnte, stieg ich in den Zug und begrüßte Wiebke und Linus, als sei alles in Ordnung. Für einen Augenblick hoffte ich, Marian sei am Bahnsteig zurückgeblieben. Doch er war direkt hinter mir und natürlich setzte er sich zu uns. Mit knappen Worten stellte ich die drei einander vor und versuchte, dabei möglichst lässig zu klingen, was mir anscheinend nicht

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