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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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besonders gut gelang. Jedenfalls wirkten die Zwillinge genauso wenig erfreut über die neue Bekanntschaft, wie ich es war. Ich fasse es nicht, sagte der Blick, den Wiebke mir über den schwarzen Plastikrand ihrer Brille hinweg zuwarf.
    »Marian?«, murmelte Linus gedehnt und saugte an seinem Lippenpiercing. Er hatte sich in seinem Sitz aufgerichtet, wohl um mit Marian auf Augenhöhe zu sein. Denn dieser war nicht nur bedeutend breitschultriger als er, sondern auch einen ganzen Kopf größer. »Das ist doch kein finnischer Name.«
    »Meine Eltern haben neun Monate vor meiner Geburt in Spanien Urlaub gemacht«, erklärte Marian und meinte damit diesmal höchstwahrscheinlich seine richtigen Eltern. Ich hütete mich jedoch, dies zu bemerken. »Am Cap de Begur an der Costa Brava. Die Reise hat ihnen anscheinend so gut gefallen, dass sie mir gleich einen spanischen Vornamen verpasst haben.«
    »Ah«, brummte Linus. »Hey, Flora, deine Haare sehen aus, als hättest du in eine Steckdose gefasst.«
    Dieser erhellenden Unterhaltung hatte anscheinend niemand etwas hinzuzufügen. Etwa drei Stationen lang schwiegen wir, während ich mit meinem Pony kämpfte. Dann stieß Lavinia zu uns und begann, Linus mit einem Bericht über irgendeinen neuen Actionfilm ein Ohr abzukauen. Als hoffe sie, er käme auf die Idee, sie zu fragen, ob sie gemeinsam ins Kino gehen würden. Zum Glück tat er es nicht. Überhaupt tat er den ganzen Weg über gar nichts mehr, außer Marian mit einem finsteren Blick zu mustern, während Wiebke sich aufmunternd bei mir einhakte.
    »Ein Austauschschüler? Jetzt ist dein Vater wohl endgültig durchgedreht«, wisperte sie und ich nickte heftig.
    Allzu durchgedreht war mein Vater allerdings wohl doch nicht. Zumindest schien Marians Auftauchen in Essen seine Richtigkeit zu haben, denn unsere Mathelehrerin Frau Brunner war bereits vollkommen im Bilde. Gleich zu Beginn der ersten Stunde ließ sie Marian nach vorne kommen, gab ihm seine Bücher und einen Stundenplan und stellte ihn der Klasse vor, bevor sie ihm den einzigen freien Platz ganz hinten in der letzten Reihe zuwies. Direkt neben Lavinia. Der Blick, mit dem diese ihren neuen Sitznachbarn willkommen hieß, verriet, dass sie wohl auch ihn gerne zu einem Kinobesuch überredet hätte. Schwungvoll warf sie ihr Haar über die Schulter und schob ihr Heft mit den Matheaufgaben in die Mitte des Tisches.
    »Sie lässt nichts anbrennen, das muss man ihr lassen«, meinte Wiebke und lächelte ihr katzenhaftes Lächeln. »Hoffen wir, dass er sie auch mag, vielleicht lässt sie uns dann endlich in Ruhe.«
    »Schön wär’s«, sagte ich und wandte mich wieder nach vorn, wo Frau Brunner die erste Aufgabe an die Tafel schrieb. Alles ist wie immer, dachte ich und schlug mein Mathebuch auf.
    Tatsächlich verlief der Vormittag ruhig und so normal wie an jedem Freitag. Wenigstens bis zur großen Pause. Erst hatten wir Mathe, dann Deutsch bei Herrn Bachmann, der uns stolz das neue Thema Expressionistische Dichtung präsentierte, welches, nun ja, auch nicht gerade Begeisterungsstürme auslöste, aber immerhin eine Abwechslung zu den Buddenbrooks darstellte. Die ganze Zeit über meldete Marian sich kein einziges Mal und so kam es, dass ich ihn schon beinahe vergessen hatte, als es zur Pause schellte und Wiebke und ich uns im Strom der Schüler auf den Schulhof hinausschoben.
    Wiebke konnte es wie immer gar nicht abwarten, endlich ins Freie zu kommen, doch als ich auf dem Gang einen karottenroten Schopf ausmachte, lenkten mich meine Schritte wie von selbst wieder ein paar Meter zurück in Richtung Klassenzimmer.
    »Hast du was vergessen?«, fragte Wiebke.
    Ich schüttelte den Kopf und drängte mich durch eine Traube Fünftklässler mit bunt bedruckten Schultornistern. Dann stand ich vor ihr und erntete als Erstes einen geringschätzigen Blick. Jetzt, bei Tag und in Farbe, sah Lena ganz anders aus als in meinem Traum. Die Aknenarben waren die gleichen, doch ihre Wangen wirkten überhaupt nicht eingefallen und auch ihre Haut war nicht fahl, sondern glänzte unter einer dicken Schicht Make-up. Anstelle von Lumpen trug Lena Jeans und ein teures Poloshirt mit aufgestelltem Kragen.
    Sie musterte mich von oben herab. »Ist was?«
    Einen Herzschlag lang überlegte ich, ob ich etwas sagen, sie nach der Sache auf dem Platz heute Nacht fragen sollte. Doch es erschien mir einfach zu lächerlich. Ich habe von dir geträumt. Nein, das konnte ich unmöglich sagen. Zumal Lena und ich nicht gerade

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