Stadt aus Trug und Schatten
Freundinnen waren. Lena hatte sich nämlich im Laufe der Jahre angewöhnt, im Unterricht stets genau das, was jemand anderes vor ihr gesagt hatte, in ihren eigenen Worten zu wiederholen, eine Taktik, die ihr zwar gute Noten, aber reihenweise genervte Mitschüler eingebracht hatte. Seit der Siebten machte ich mir einen Spaß daraus, ihr in jeder Diskussion zu widersprechen. Aus Prinzip.
Auf dem Flur lieferten wir uns heute allerdings alles andere als ein Wortgefecht. Mit einem genuschelten »Nö, ich dachte bloß, hinter dir säße eine Spinne an der Wand« wandte ich mich ab und ließ mich von Wiebke nach draußen ziehen.
Es war ein überraschend warmer Herbsttag und wir breiteten unsere Jacken an unserem Lieblingsplatz in der hintersten Ecke des Schulgartens aus und setzten uns darauf. Halb verborgen hinter Hecken und Bäumen konnte man hier wunderbar reden. Nur äußerst selten verirrte sich jemand hierher, vielleicht weil Wiebke und ich diesen Platz, an dem es so herrlich nach Moos und Gräsern roch, bereits seit sechs Jahren für uns beanspruchten.
Den Rücken gegen den Stamm einer Linde gelehnt, berichtete ich Wiebke, wie genau ich meine Familie gestern zu Hause vorgefunden hatte. Den Schatten in der Küche und meinen seltsamen Traum behielt ich allerdings lieber für mich. Irgendetwas sagte mir, dass es besser wäre, Wiebke in dem Glauben zu lassen, ich hätte gestern tatsächlich Kreislaufprobleme gehabt. Es war komisch, normalerweise erzählten wir uns alles. Aber diese Schatten-Traum-Sache hatte mittlerweile etwas so Reales angenommen, dass es geradezu unheimlich war. Das Ganze war nichts, was man mit einer Freundin analysieren und ausdiskutieren sollte, das spürte ich.
»Und dann haben sie ihm ein Klappbett im Arbeitszimmer aufgestellt«, sagte ich.
»Das ist doch verrückt«, unterbrach Wiebke zum fünften Mal meine Erzählung. »Keine Fremden in der Wohnung, das Gesetz gilt bei euch so uneingeschränkt wie eine päpstliche Bulle im Mittelalter.«
»Ja«, sagte ich. »Genau.«
»Das ist absolut verrückt.«
Eine Weile zerbrachen wir uns den Kopf darüber, was zu diesem plötzlichen Sinneswandel meines Vaters geführt haben mochte. Aber außer bewusstseinserweiternden Drogen, der altbekannten Alientheorie oder einem richtig harten Schlag auf den Kopf fiel uns nichts ein. Schließlich gaben wir es auf und Wiebke kramte stattdessen ihren Hello-Kitty-Terminkalender hervor. Er hatte ein grauenvolles Glitzercover und stammte aus New York, wo Wiebkes Familie im Sommer Verwandte besucht hatte. Passend dazu zückte Wiebke einen Kugelschreiber mit Plüschüberzug und einem Federbüschel am Ende. Alles in Rosa natürlich.
»Wir sollten mal überlegen, was wir dieses Wochenende unternehmen. Wenn ich das richtig sehe, ist es das letzte vor Probenbeginn. Hast du dich jetzt eigentlich endlich entschieden?«, fragte sie.
Ich schüttelte den Kopf. Wie jedes Jahr hatte unsere Ballettgruppe am Vortanzen für das Weihnachtsmärchen des Aalto-Theaters teilgenommen. Der Nussknacker stand auf dem Programm, und während Wiebke für die Solorolle einer aufziehbaren Puppe ausgewählt worden war, wollte man mich wieder in den Chor der Mäuse stecken. Wegen der Größe. Noch immer rang ich mit mir, ob ich es wirklich mit meinem Stolz vereinbaren konnte, mit ausgepolstertem Bauch und einem Kopf aus Pappmaschee inmitten einer Horde Elfjähriger über die Bühne zu hüpfen. Mit dreizehn war das noch irgendwie okay gewesen, mit fünfzehn schon ein bisschen peinlich. Aber jetzt? Jetzt erschien es mir lächerlich.
»Wahrscheinlich sage ich ab«, erklärte ich. »Tut mir leid.«
Auf Wiebkes Gesicht machte sich Enttäuschung breit. »Das wäre schade.«
»Ja«, sagte ich. Immerhin waren wir bisher immer zusammen zu den Proben gegangen. Jahr für Jahr hatten wir gemeinsam den Aufführungen entgegengefiebert und uns gegenseitig bei den Schrittkombinationen geholfen. Und dann der Moment, in dem sich der Vorhang hob! Ich würde das alles vermissen. Aber ich wollte keine kleine Maus sein. Punkt.
»Also, was wollen wir morgen machen?«, kam ich auf das eigentliche Thema zurück. »Irgendwelche Vorschläge?«
»Shoppen und DVD-Nacht bei mir?«
»Filmegucken klingt gut, aber Einkaufen?« Ich schnitt eine Grimasse, Wiebke jedoch zupfte schon mit spitzen Fingern an meinem Pulli herum.
»Ach, komm schon, du brauchst dringend neue Klamotten. Ich berate dich auch.« Sie setzte ihren Hundeblick auf. »Biiiiitteeee!«
»Ich weiß
Weitere Kostenlose Bücher