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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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nicht.« Wenn ich mir Wiebkes Barbie-Shirt und ihre pinkfarbene Jeans so ansah, zweifelte ich doch arg an ihren Fähigkeiten als Stilberaterin. Andererseits konnte ich wirklich eine neue Hose vertragen. Erst letzte Woche hatte ich meine Lieblingsjeans entsorgen müssen, weil sie mittlerweile aus mehr Löchern als Nähten bestanden hatte. Und ohne Wiebke würde ich mich wahrscheinlich nie dazu aufraffen, ins Einkaufszentrum zu gehen.
    Ich seufzte. »Na gut. Aber ich suche die Filme aus.«
    Wiebke strahlte mich an und zuckte im nächsten Moment erschrocken zusammen. Etwas raschelte. Eine Falte bildete sich auf ihrer Stirn.
    »Was …«, begann sie. Die Hecke vor uns bewegte sich, knackte. Einige Blätter segelten zu Boden. Zweige erzitterten. Dann brach plötzlich Marians bleiche Gestalt dazwischen hervor und stürzte uns entgegen.
    »Weg da!«, keuchte er und warf sich auf uns wie ein geistesgestörter Rugbyspieler.
    »Aua!«, rief ich, als seine Schulter mich hart an der Schläfe traf und ich gegen Wiebke geschleudert wurde. Gemeinsam flogen wir in den Schatten der Gartenmauer, deren rauer Putz mir Handrücken und Ellenbogen aufschürfte. Sofort war Marian wieder auf den Beinen und baute sich vor uns auf, als wolle er uns beschützen. Seine Schultern bebten vor Anspannung. Ich bemerkte eine Bewegung aus dem Augenwinkel und die Härchen an meinen Armen richteten sich auf. Ein Knistern hatte sich über den Schulgarten gelegt, als wäre die Welt um uns herum mit einem Mal ein überdehntes Gummiband kurz vor dem Reißen.
    Dann sah ich den Schatten.
    Schon wieder.
    Er war groß und schwarz, aber nicht länger formlos, im Gegenteil. Entsetzt erkannte ich eines der geflügelten Pferde aus meinem Traum, das mit glühenden Augen wie ein lebendiges schwarzes Loch aus dem Himmel herabstürzte und an eben der Stelle seine Hufe in den Boden rammte, wo wir gerade noch gesessen hatten. Ein schattenhafter Mann mit Zylinder saß auf seinem Rücken und wandte mit abgehackten Bewegungen den Kopf in alle Richtungen, als suche er etwas. Oder jemanden. Mir wurde kalt vor Angst. Die Konturen von Pferd und Reiter zuckten, ihre Gestalten flimmerten wie bei einem schlecht eingestellten Fernsehsignal.
    Wie konnte das sein? Was passierte hier? Ich zitterte, war unfähig, mich zu rühren. Anders als Wiebke, die sich vollkommen unbeeindruckt zeigte. Wutentbrannt sprang sie auf.
    »Sag mal, spinnst du?«, fauchte sie und klopfte sich den Schmutz von der Hose. Doch Marian reagierte nicht. Noch immer wandte er uns den Rücken zu, stand mit ausgebreiteten Armen zwischen uns und dem Schattenpferd, wie ein menschlicher Schutzschild.
    »Idiot«, murmelte Wiebke und reichte mir die Hand, um mir aufzuhelfen.
    Doch ich regte mich nicht. Zu sehr zog das, was hier im Schulgarten geschah, mich in seinen Bann. Schnaubend stand das Pferd da, während Marians Gestalt dunkler wurde. Ein flirrender Schatten hatte sich um seine Züge gelegt und dann geschah das Unglaubliche: Marian verdoppelte sich. Das heißt, nein, vielmehr tat sein Schatten einen Schritt nach vorn, dunkel und flackernd, und begann leise auf den Reiter einzureden, der sich im Sattel ein Stück zu ihm herunterbeugte. Der echte Marian stand weiterhin wie ein Fels vor uns, gleichzeitig klopfte ein schwärzlich flimmernder Marian dem Pferd den Hals. Mir wurde schwindelig.
    »Los, Flora, lass uns von hier verschwinden«, sagte Wiebke, die von alldem nicht das Geringste mitzubekommen schien, und zog an meinem Arm. »Der Typ hat sie doch nicht mehr alle. Stürzt sich auf uns und erstarrt dann zur Salzsäule. Hallo? Hörst du mir überhaupt zu?«
    Ich zwang mich, meinen Blick von den Schattengestalten zu lösen. »Ich …«, begann ich mit belegter Stimme. »Äh … ich komme gleich. Geh du ruhig schon mal vor.«
    Wiebke senkte die Stimme. »Dein Austauschschüler ist ein Psychopath, auf keinen Fall lasse ich dich mit dem allein.«
    »Ja«, sagte ich. Marians Schatten verschmolz wieder mit seinem Körper. »Vielleicht. Aber ich glaube, ich sollte trotzdem kurz mal mit ihm reden, von Gastschwester zu Gastbruder sozusagen.«
    Hinter den Gläsern ihrer Brille verengten sich Wiebkes Augen zu sorgenvollen Schlitzen. »Aber wenn du in fünf Minuten nicht da bist, dann komme ich und rette dich«, drohte sie und machte sich auf den Weg in Richtung Toiletten, vermutlich um die Grasflecken auf ihrer Hose auszuwaschen.
    Unter der Linde gab der Schattenreiter seinem Pferd derweil die Sporen, woraufhin es die

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