Stadt aus Trug und Schatten
mächtigen Schwingen entfaltete und mit drei kräftigen Schlägen abhob. Fassungslos beobachtete ich, wie es in den Himmel entschwand. Auch Marian, der nun wieder in einfacher Ausführung dastand, hatte den Kopf in den Nacken gelegt. Eine halbe Ewigkeit lang blickten wir beide dem Schattenpferd nach, obwohl es längst nicht mehr zu sehen war. Dann wandte er sich endlich um.
»Möchtest du jetzt vielleicht über letzte Nacht sprechen?«
»Was war das gerade?«, flüsterte ich.
Marian ließ sich neben mir an der Mauer nieder. »Das war ein Späher, ein Schattenreiter«, erklärte er. »Es gibt eine ganze Armee von ihnen. Ihr oberster Befehlshaber hat sie ausgeschickt, um nach dir zu suchen.«
Nur die Hälfte seiner Worte erreichte meinen Verstand. »Nach mir? Warum? Ich meine, ich habe gerade den Schatten eines fliegenden Pferdes gesehen. Und du bist auch … und … ich hatte davon geträumt«, stammelte ich, unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen. »Hast du das alles auch gesehen?«
»Hör zu«, sagte Marian ernst. »Gestern Nacht ist etwas mit dir geschehen. Etwas hat sich verändert. Deine Träume haben sich verändert.«
Ich nickte, zu verwirrt, um mich über das kleine selbstgefällige Lächeln zu ärgern, das über Marians Gesicht huschte, bevor er weitersprach.
»Hast du dich nicht schon mal gefragt, was mit dem Bewusstsein der Menschen geschieht, wenn sie schlafen?«, fragte er.
»Bisher nicht. Man macht die Augen zu und ruht sich aus. Man schläft einfach, oder?« Schlaf war für mich immer so etwas wie schwarze Zeit gewesen. Ein dunkles Nichts.
Marian legte den Kopf auf seine angewinkelten Knie und rupfte gedankenverloren ein Büschel Gras aus dem Boden. »Nicht ganz. Was du gesagt hast, stimmt für unsere Körper, sie ruhen sich aus und schöpfen neue Kraft, wenn wir schlafen. Aber unsere Seelen tun das nicht. Wenn der Körper ruht, ist die Seele frei und wandert hinüber in die Welt der Schatten.«
»Eisenheim«, wisperte ich. »Die Stadt der wandernden Seelen.«
»Genau. Heute Nacht hast du es zum ersten Mal bewusst miterlebt. Die Seelen aller Menschen wandern, Nacht für Nacht finden sie sich in der dunklen Metropole ein. Doch es gibt nur wenige Wandernde wie uns, die es bemerken. Die meisten Leute schlafen und träumen einfach. Wir nennen sie Schlafende. Sie haben keine Ahnung, was ihre Seelen in Eisenheim tun, denn sie erinnern sich nicht. Bis gestern war es bei dir ebenso.«
Mein Kopf schwirrte. Also war mein Traum doch etwas Besonderes gewesen. Er war echt gewesen! Die ganze Zeit über hatte ich es geahnt, doch noch immer mochte ich es nicht so recht glauben. Ein ganzer Wust von Fragen lag mir auf der Zunge. Was war diese Schattenwelt? Wo lag sie, was geschah in dem Moment, in dem ich einschlief? Und vor allem: Warum passierte all das ausgerechnet mir? Doch das Klingeln der Schulglocke verkündete bereits das Ende der Pause und so begann ich mit dem Naheliegendsten. »Heißt das, ich werde von jetzt an immer, wenn ich einschlafe, in dieser komischen Stadt landen?«
Marian nickte. »Alle Seelen landen dort, Nacht für Nacht. Auch deine hat das schon seit deiner Geburt getan. Doch seit gestern bist du eine Wandernde und deshalb wirst du es von nun an immer miterleben und dich daran erinnern.«
Trotz wallte in mir auf und bildete einen heißen Knoten in meiner Kehle. Dieses dämliche Eisenheim konnte mir gestohlen bleiben. Mein Leben war doch gut so, wie es war. »Und wenn ich das gar nicht will?«
»Es gibt kein Zurück. Von jetzt an wirst du wandern und auch in dieser Welt die Schatten der Wandernden erkennen können. Von nun an können Schattenwesen wie der Reiter dir auch in dieser Welt etwas anhaben.«
»Nein!«, rief ich. »Warum? Warum ich?«
»Es geht nicht anders, Flora. Der Späher gerade, weißt du, was er wollte? Er wollte dich«, sagte Marian. »Jemand aus der Schattenwelt hat es auf dich abgesehen. Deswegen wurdest du zur Wandernden. Nur deswegen hat Christabel mich zu euch geholt, damit ich auf dich aufpassen und dich beschützen kann.«
»Christabel ist auch eine …« Ich brach ab.
»Sie gehört zu uns, zu den Wandernden, ja.«
»Und wieso ist dieser Monsterreiter hinter mir her?«
Marian öffnete den Mund, um zu antworten, doch in diesem Augenblick kam Wiebke zurück.
»Flora! Wo bleibst du denn? Wir müssen zum Unterricht«, rief sie schon von Weitem.
»Ich bin zu euch gezogen, um dich zu beschützen, Flora, und das werde ich auch tun. Den Späher gerade habe
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