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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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ich fürs Erste abgewimmelt. Im Schatten konnte er dich nicht sehen, also mach dir keine Sorgen. Den Rest erkläre ich dir nachher«, sagte Marian rasch.
    Ich nickte und bückte mich nach den beiden Jacken, die noch immer ausgebreitet unter der Linde lagen. Dass ein riesiges Pferd darauf gelandet war, sah man ihnen nicht an.

5 SCHLAFWANDERUNG
    An diesem Abend war ich müde. Unser Sportlehrer Herr Wilhelms hatte uns den Nachmittag über das extremste Training seit Wochen absolvieren lassen. Denn momentan spielten wir im Unterricht Hockey und unglücklicherweise hatte sich herausgestellt, dass Marian auf seinem Internat in Finnland einem recht ambitionierten Eishockeyteam angehört hatte. Wir spielten hier ja ganz normal in der Turnhalle und mit diesen Sicherheitsschlägern, die wie riesenhafte Wattestäbchen aussahen, doch Marian, der selbst mit einem solchen Ding in der Hand und ohne Helm, Schulterpolster und Schlittschuhe gefährlich aussah, hatte Herrn Wilhelms anscheinend tief beeindruckt. Ebenso wie den größten Teil der Mädchen in unserem Kurs, die bei Marians geschmeidigen Bewegungen und den sich unter seinem T-Shirt abzeichnenden Muskeln abwechselnd in Verzückung geraten oder in albernes Gekicher ausgebrochen waren.
    »Wie gackernde Hühner«, hatte Wiebke gemeint und mich zur Seite gezogen. »Aber süß ist er schon. Bloß leider ein Psychopath.«
    Ich hatte antworten wollen, dass er vielleicht doch nicht so gestört war, wie sie annahm, doch dazu hatte mir die Atemluft gefehlt.
    Jedenfalls hatten wir in den drei aufeinanderfolgenden Stunden Sport erst mehrere Spiele machen und anschließend ein Zirkeltraining XXL absolvieren müssen, weil Herr Wilhelms anscheinend beweisen wollte, dass auch er etwas von echtem Hockey verstand. Obwohl ich eigentlich ein sportlicher Typ war, hatte ich mich am Ende des Unterrichts vollkommen gerädert gefühlt. Schon den ganzen Abend über brannten meine Augen vor Müdigkeit.
    Doch nun, da ich in meinem Bett lag, fiel mir das Einschlafen schwer, viel zu schwer. Denn ich war nervös. Und ich fürchtete mich. Obwohl Marian mir ganz genau erklärt hatte, was ich tun musste, sobald ich in Eisenheim angekommen wäre, zitterte ich, brachte es nicht über mich, die Augen zu schließen. Allein der Gedanke daran, erneut im freien Fall auf die Dächer der Stadt zuzustürzen, sorgte dafür, dass ich mich hellwach fühlte.
    Unruhig warf ich mich in meinem Bett hin und her, fand jede Position unbequem und verfing mich immer wieder in meiner Decke. Nicht einmal ein paar Seiten zu lesen, half mir. Und nach eineinhalb Stunden begriff ich auch, warum: Ich wollte nicht wieder zurück in diese unwirtliche Schattenstadt und der Gedanke, es nicht verhindern zu können, machte mich wütend. Ich war es schon lange gewohnt, meine eigenen Entscheidungen zu treffen, so gut wie erwachsen, mein eigener Herr. Und wenn ich nicht dorthin wollte, dann musste ich auch nicht. Punkt. Vielleicht sollte ich einfach die Nacht durchmachen, überlegte ich, steckte mir die Kopfhörer meines iPods in die Ohren und drehte die Lautstärke hoch.
    Eine Weile funktionierte es, aber irgendwann passierte es doch. Wieder sog der Schlaf mich in sich auf. Wieder begann ich zu fallen. Erst durch vollkommene Schwärze, dann durch das gleißende Licht, das mich erneut viel zu früh in die Kälte entließ. Eisiger Wind zerrte an meinen Kleidern und Haaren.
    Unvermittelt schälten sich die Dächer Eisenheims aus der Dunkelheit. Rasend schnell stürzte ich ihnen entgegen und wieder fiel ich nicht allein, bemerkte aus dem Augenwinkel weitere Gestalten neben mir. Andere Seelen. Unter mir erkannte ich die Fabriken und den Förderturm, dazwischen den Platz, auf dem sich in der letzten Nacht die Arbeiter gedrängt hatten. Schlotbaron wurde dieser Teil der Stadt genannt, hatte Marian mir erklärt.
    Ich blinzelte.
    »Da sind Sie ja wieder. Guten Abend«, sagte Barnabas, kaum dass ich die Augen aufgeschlagen hatte. »Da hat aber jemand ganz schön lange wach gelegen«, stellte er grinsend fest.
    »Hallo«, grummelte ich und setzte mich ächzend auf. Wieder saß ich auf dem aschebedeckten Boden unter der Treppe und war, nun ja, peinlich berührt. Marian hatte mich vorgewarnt, die Seele kehrte immer an den Ort zurück, wo sie zuletzt gewesen war. Aber irgendwie fühlte es sich doch komischer an, als ich gedacht hatte. Was sagte man denn so, wenn man sich gerade aus dem Nichts heraus unter einer Treppe materialisiert hatte? War es für die

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