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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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anderen Wandernden normal, dass neben ihnen urplötzlich Leute auftauchten?
    Der Bettler sah mich erwartungsvoll an. »Ich hoffe, Sie haben einen angenehmen Tag in Ihrer Heimat verlebt?«, erkundigte er sich. »Ein langer war es wohl auf jeden Fall. Ich rechne schon seit drei Stunden mit Ihrer Ankunft.«
    »Ja, einigermaßen angenehm«, sagte ich und fragte mich, ob nicht auch Marian schon länger auf mich wartete, um mich zu seinen Leuten zu bringen. Bestimmt. Immerhin hatte die Digitalanzeige meines Weckers bereits auf 2.15 Uhr gestanden, als ich zum letzten Mal darauf gesehen hatte. Sicher war er lange vor mir eingeschlafen. Und nun, da ich doch wieder hergekommen war, sollte ich ihn wohl besser treffen, wenn ich nicht an der nächsten Ecke erneut von irgendeinem Monster angefallen werden wollte.
    »Leider muss ich jetzt gehen«, sagte ich deshalb. »Ich bin verabredet.«
    Barnabas hob erstaunt eine borstige Augenbraue. »Ach, dann ist die Dame also nicht mehr so ratlos wie gestern?«
    »Nein. Zumindest weiß ich jetzt, von wem ich ein paar Erklärungen bekommen kann«, sagte ich und erhob mich umständlich aus der Enge des Verschlags. »Also dann, auf, äh … Wiedersehen.«
    »Oh, nicht so schnell«, rief Barnabas. »Warten Sie, ich möchte Ihnen etwas schenken.« Aus der Tasche seines speckigen Mantels kramte er einen Gegenstand hervor, silbern und nicht länger als mein Finger. »Das hier wird Sie beschützen. Es hat mir in meinem Leben viel Glück gebracht, doch nun bin ich alt und brauche es nicht mehr«, erklärte er und reichte mir das sichelförmige Metall.
    Es war glatt und kalt, ein schmuckloser kleiner Bogen, der schwer in meiner Hand lag. Zum einen Ende hin ein wenig verstärkt, sodass er sich in meine Hand schmiegte, als wäre er nur dafür gemacht worden, um von mir gehalten zu werden.
    »Was ist das?«
    »Es wird Sie beschützen«, wiederholte Barnabas und zog sich in die Ecke zurück, in der sich sein Bett aus Lumpen befand. »Ihr Besuch in meinem bescheidenen Heim hat mich sehr geehrt. Leben Sie wohl.«
    »Also dann …«, murmelte ich, schob das Geschenk des Bettlers in die Tasche der dunklen Hose, die ich gestern bereits getragen hatte, und trat in die Gasse hinaus. Mein erster Blick galt dem Himmel, der nackt und vollkommen pferdeleer über den Fabriken hing. Zum Glück. Auch Menschen waren nirgendwo zu sehen, genau wie Marian es mir prophezeit hatte. Ich atmete auf und setzte mich in Bewegung. Also war ich gestern tatsächlich mitten in einen Schichtwechsel geraten. Die Erinnerung an die verhärmten Gestalten huschte durch meine Gedanken. Jetzt hingegen schienen alle bei der Arbeit oder zu Hause zu sein.
    Trotzdem wäre es unklug gewesen, den großen Platz noch einmal zu überqueren, denn er wurde Tag und Nacht bewacht. Auf keinen Fall wollte ich in die Hände dieser unheimlichen Reiter fallen, ich war schließlich nicht lebensmüde. Marian hatte mir eingeschärft, stattdessen in die genau entgegengesetzte Richtung zu gehen, bis ich den Krawoster Grund, die Kolonie der Arbeiter, erreichte, zu der anscheinend alle Gassen und Straßen des Industriegebiets früher oder später führten. Dort würden wir uns treffen.
    Umhüllt von Dunkelheit und Stille machte ich mich auf den Weg, Kilometer um Kilometer, so kam es mir vor, hörte ich nur meine eigenen Schritte zwischen Schornsteinen und fensterlosen Hallen, Fördertürmen und Halden. Die ganze Zeit über begegnete ich nicht einer Menschenseele. Fast befürchtete ich schon, ich hätte mich erneut in dieser gespenstischen Stadt verlaufen, da erkannte ich vor mir plötzlich die geduckten Häuser der Arbeiter. Kaum mehr als Baracken waren es, aufgereiht wie hässliche Perlen an einer Kette klebten sie in der Senke eines Tales, das sich zu meinen Füßen entfaltete wie ein schmutziger Teppich. Es waren unzählige. Ich wandte den Kopf, doch weder zu meiner Linken noch zu meiner Rechten konnte ich das Ende der Siedlung ausmachen. Nur vor mir sah ich in der Ferne das Band eines Flusses. Die Straße wurde breiter, aber dafür unbefestigter. Zu beiden Seiten säumten Abwassergräben den Weg, aus denen ein fauliger Geruch kroch, der eine Horde magerer Kinder in Lumpen jedoch nicht davon abzuhalten schien, Staudämme in der Brühe zu errichten, während ihre Eltern in den Fabriken schufteten.
    Ein Stück weiter erkannte ich endlich Marians hellen Schopf. Die Arme hinter dem Kopf verschränkt, lehnte er an einer windschiefen Wand. Eine graue Gestalt in einer

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