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Stadt aus Trug und Schatten

Stadt aus Trug und Schatten

Titel: Stadt aus Trug und Schatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mechthild Gläser
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meine Seele«, murmelte ich und sog seinen Duft ein.
    »Ja«, flüsterte er und sein Gesicht war meinem plötzlich ganz nahe.
    Rasch senkte ich den Blick. »Aber … ich bin nicht wie meine Seele«, sagte ich. »Ich bin jemand anderes.«
    Marian nickte und trat einen Schritt zurück. »Ich weiß.«
     
    Auch in der Schattenwelt wollte man mir in dieser Nacht beibringen, mich zu verteidigen, was naheliegend war bei einem Orden, dessen Hauptaufgabe der Kampf war. So viel hatte ich immerhin verstanden, auch wenn mir die genaue Tätigkeit des Grauen Bundes selbst nach einem ausführlichen Rundgang durch das Gebäude noch immer schleierhaft war. Neben dem Westflügel, in dem sich nicht nur mein Zimmer, sondern ebenso die Schlafkammern der anderen Mitglieder befanden, beherbergte Notre-Dame einen Hauswirtschaftstrakt sowie eine ganze Reihe von Sälen mit schwindelerregenden Deckenhöhen und etwa eine Million leer stehende Räume ohne erkennbare Funktion. Irgendwo gab es auch eine Waffenkammer.
    Doch wo genau sich was befand, vermochte ich nicht einmal ungefähr zu sagen. Das Gebäude kam mir noch mehr als zuvor wie ein Labyrinth vor. Es war für Neulinge schier unmöglich, sich darin ohne Karte zurechtzufinden. Denn die meisten Flure schienen sich überhaupt nicht an die Gesetze der Geometrie zu halten. Sie wanden sich durch das Gemäuer wie Würmer, mal verspiegelt wie die Eingangshalle, mal verstaubt und mit dicken Teppichen ausgelegt, in denen die Füße bei jedem Schritt einsanken.
    Wie alles in der Schattenwelt war auch die Inneneinrichtung von Notre-Dame schwarz-weiß und auf die eine oder andere Weise antik. Und fast genauso antik wirkten die Bewohner der Kathedrale in ihren Gewändern und Pluderhosen aus dunklem Stoff. Insgesamt lebten 63 Menschen im Hauptquartier des Grauen Bundes. Die meisten von ihnen waren Kämpfer, hinzu kamen der Großmeister und seine Familie, einige Dienstboten, ein uralter Sekretär namens Demetrius, der wie ein Skorpion durch die Gänge und Treppenhäuser zu huschen pflegte, und eine geheimnisvolle Frau, die von allen nur »die Dame« genannt wurde und ihr Gesicht stets hinter einer Maske verbarg. Sie lebte angeblich bereits seit einigen Jahren beim Bund, hatte die Kathedrale in der ganzen Zeit erst ein paar Dutzend Male verlassen und nicht einen Hinweis auf ihre wahre Identität gegeben. Ich selbst war ihr bisher noch nicht begegnet.
    Mein erstes Dämmerungstraining fand im Tiberischen Saal statt. Seine Wände wurden von wie Quecksilber glitzernden Wasserfällen überzogen, die sich in ein System von handbreiten Kanälen ergossen und den Boden durchschnitten. Zum Glück waren nur eine Handvoll Personen anwesend, um meine ersten Kampfversuche zu begutachten. Allen voran Mafalda Drosophila Grindeaut, Fluvius Grindeauts jüngere Schwester. Von einem storchenbeinigen Stuhl in der Mitte des Raumes aus beobachtete Madame Mafalda, wie sie von allen genannt wurde, jede meiner Bewegungen. Mit kaum verborgenem Missfallen.
    »Du meine Güte, doch nicht so!«, rief sie und wedelte sich mit einem monströsen Fächer Luft zu. »Flora! Du hältst den Langstock, als wolltest du ihn einem Hund zum Apportieren hinwerfen!«
    Madame Mafalda war fett. Unglaublich fett. Ihr Gesicht besaß die Form und Konsistenz eines Pfannkuchens, in dem winzige Rosinenaugen prangten. Ihr Busen quoll soweit aus dem Ausschnitt ihres Kleides hervor, dass er ihre Doppelkinne berührte und es jedes Mal ein saugendes Geräusch gab, wenn die alte Dame den Kopf schüttelte und mich tadelte. Zwar hingen ihre Pobacken an den Seiten ihres Stuhles hinunter wie Schlauchboote und ihre Stimme besaß in etwa die Tonlage eines Kanarienvogels, dennoch wagte es niemand, Madame Mafalda zu belächeln. Denn sie war eine Legende.
    Als junge Frau, so hatte Marian mir erklärt, war Madame Mafalda nämlich die beste Kämpferin des Ordens gewesen. Ganz allein hatte sie seinerzeit das Leben des jetzigen Fürsten gerettet, der damals noch Thronfolger und ein Kleinkind gewesen war, indem sie einen tödlichen Anschlag vereitelt hatte. Angeblich war sie so wendig wie eine Forelle gewesen. Etwas, was man von mir nun wirklich nicht behaupten konnte.
    Ich schwang den Langstab über meinem Kopf und hätte damit beinahe Marian eins übergebraten, der neben mir mit einem bulligen Mann namens Arkon trainierte.
    »Um Himmels willen! Wir können nur beten, dass deine Erinnerung bald zurückkehrt. Deine Seele war ein Naturtalent«, erklärte Madame Mafalda und

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