Stadt aus Trug und Schatten
hinderte mich erneut daran, tatsächlich einen Schritt nach vorn zu gehen. »Nein, nicht so. Nur in Gedanken.«
Ich probierte es. Wieder und wieder. Aber jedes Mal zog Marian mich zurück.
»Ich schaffe das nicht«, murmelte ich nach dem zwanzigsten Fehlversuch und schüttelte seine Arme von mir ab. »Lass uns nach Hause gehen.«
Er presste die Lippen aufeinander. »Du gibst auf? Warum?«
»Weil ich es nicht hinbekomme und gleich die letzte U-Bahn für heute fährt«, sagte ich und ging los.
»Du machst dir Sorgen um die letzte Bahn?«, fragte Marian und klang dabei, als hätte ich ihm eröffnet, einen rosafarbenen Elefanten in unserem Hinterhof halten zu wollen.
»Ich wüsste nicht, was daran so schrecklich sein sollte.«
Wir liefen die Straße entlang, eine Katze kreuzte unseren Weg und verschwand unter einem parkenden Auto. Unsere Schritte klapperten auf dem Asphalt.
»Nichts natürlich.« Marian warf mir einen schnellen Seitenblick zu. »Du bist nur so anders. So vernünftig. So … scheißerwachsen.«
Wie bitte? Ich schnaubte.
»Ich meine, du übernimmst so viel Verantwortung, machst den Haushalt und bemutterst deinen Vater und Christabel, als wären sie kleine Kinder. Du bist siebzehn, Flora.«
»Ich kümmere mich um die beiden, weil ich es muss. Sie würden ohne mich doch gar nicht klarkommen.«
»Natürlich würden sie das. Sie sind erwachsen.«
Wir hatten die U-Bahn-Station erreicht und betraten die Rolltreppe, die sich heulend in Bewegung setzte.
»Du hast keine Ahnung, weißt du das? Nicht mal so ein bisschen.« Ich presste Zeigefinger und Daumen aufeinander, während wir nebeneinander in die Tiefe fuhren. Besprayte Wände zogen an uns vorbei. »Ich muss das alles tun, klar?« Weil Mama abgehauen ist.
Marian zuckte mit den Achseln. »Aber so vorsichtig, so pflichtbewusst, das bist doch gar nicht du. «
Hitze stieg mir ins Gesicht. »Ich hab dir schon mal gesagt, dass die Flora, die du bisher kanntest, und die echte hier wohl nicht viel miteinander zu tun haben.«
»Ja, ja. Das habe ich jetzt kapiert.«
»Ach?«
»Natürlich«, sagte er leise.
»Gut. Können wir dann das Thema wechseln? Es nervt nämlich echt, jeden Tag die gleiche Diskussion mit dir zu führen.«
Marian schwieg. Seine Kiefer mahlten.
Ich verdrehte die Augen. »Was ist denn noch?«
»Na, die Sache ist die …« Er biss sich auf die Unterlippe und sah mir fest in die Augen. »Die Sache ist die, dass ich dich liebe, nein, geliebt habe, also, deine Seele.« Marian holte Luft. »Wir waren zusammen. Ich habe deine Seele geliebt und sie mich.« Er setzte sich in Bewegung. »So! Jetzt kennst du die Wahrheit«, rief er, während er die Rolltreppe hinunterhastete.
Ich vergaß weiterzuatmen, brauchte einen Moment, bis ich mich wieder gefangen hatte. Marian und ich ein Paar? Ich starrte ihm hinterher. Ich gestand es mir nur ungern ein, aber die Vorstellung hatte was, er war schließlich recht, nun ja … Verdammt, er sah umwerfend aus. Er beschützte mich. Und da war diese unterschwellige Energie in jeder seiner Bewegungen. In jedem seiner Worte spürte ich, dass dort hinter der Fassade des bleichen Kriegers noch viel mehr war, was es zu ergründen galt. Doch – nein, stopp. Rasch schob ich dieses Gefühl beiseite. Wir kannten uns schließlich kaum und diese ganze Wandernden-Sache war auch so schon verwirrend genug. Nicht einmal ich selbst, die echte Flora, war diejenige, die er mochte. Ich sah nur zufällig genauso aus wie seine Exfreundin. Nein, was auch immer zwischen uns gewesen sein mochte, es war vorbei, oder?
»Aber davon weiß ich nichts mehr«, rief ich und begann nun ebenfalls zu rennen. Die metallenen Stufen flogen unter meinen Füßen dahin, dann erreichte ich den Bahnsteig und fand Marian in den Fahrplan vertieft. Ohne nachzudenken, drängte ich mich zwischen ihn und den Schaukasten. Mein Atem ging fliehend.
»Wie …«, begann ich, doch der Rest meiner Frage entfiel mir, ehe ich sie aussprechen konnte.
Stattdessen sahen wir einander an, die Blicke ineinander verschränkt, als wären sie durch ein unsichtbares Band verbunden. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, einem vollkommen anderen Menschen gegenüberzustehen. Marians Gesicht war blass, doch der harte Zug um die Lippen verschwunden. Das Grün seiner Augen schien mich verschlingen zu wollen und erneut durchzuckte mich die Wärme der Erinnerung, der Erinnerung an einen Kuss. Ich zitterte.
»Wir haben uns geliebt«, wiederholte Marian kaum hörbar.
»Du und
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