Stadt aus Trug und Schatten
die ich nun einmal nicht mehr war. Da war etwas anderes gewesen. Eine Wut, die viel älter war als seine Verzweiflung über den Verlust seiner Freundin. Eine Wut, die erahnen ließ, dass ihm in seinem Leben bereits weitaus Schlimmeres widerfahren war. Obwohl ich gerade meinen ersten Kampfunterricht erhalten und mich an etwas erinnert hatte, was einzig meine fremde Seele erlebt hatte, kreisten meine Gedanken um nichts anderes als Marian. Wo hatten sie ihn hingebracht? Wie ging es ihm jetzt? Würde er Schwierigkeiten wegen seines Ausrastens bekommen?
So saß ich also zwischen altgedienten Kämpfern mit Backenbärten und in Charlestonkleider gehüllten Frauen mit Hüten und langen Perlenketten und starrte vor mich hin. Tatsächlich war ich so sehr in meine Überlegungen versunken, dass ich nicht einmal bemerkte, wie die Gespräche um mich herum verstummten und einem ehrfürchtigen Raunen wichen. Erst als die Frau, die den Raum durch eine in der Wand verborgene Tür betreten hatte, das Kopfende der Tafel erreichte, wo sie sich neben den Großmeister setzte, fiel mir die plötzliche Stille auf. Ein Schweigen, das niemand anderem als dieser zierlichen Person galt, die ihr Gesicht hinter einer Maske verbarg und dennoch hoheitsvoll von ihrem leicht erhöhten Platz auf die versammelten Menschen sah.
Die Dame, dachte ich und war im selben Moment genauso verzaubert wie alle anderen. Dabei war ihre Erscheinung weder besonders imposant noch Ehrfurcht gebietend. Die Dame trug ein schlichtes Kleid aus dunklem Stoff, das um ihre mageren Schultern einige Falten warf. Ihr Haar war dunkel und zu einem einfachen Knoten gewunden und die Maske, die ihr Antlitz verbarg, war nichts als ein Stück weißer Gips. Einzig ihre Augen, die sich kaum mehr erahnen ließen, blitzten in die Runde, ihre sehnigen Hände lagen ruhig auf der Tischplatte.
Doch noch immer hielt der ganze Saal den Atem an, so sehr umfing uns die Anwesenheit dieser einzelnen Frau. Obwohl sie nur dasaß, war es einfach unmöglich, den Blick von ihr zu wenden.
Und dann begann sie zu sprechen.
»Willkommen, meine Freunde«, sagte sie mit leiser Stimme und erreichte dennoch jeden Winkel des Saales. Tief und klar erfüllte ihr Klang die Luft und drang direkt in die Herzen der Zuhörer, als sie fortfuhr: »Lasst uns ohne Umschweife anfangen. Wir müssen weiter über eine alternative Energiegewinnung nachdenken.«
Von allen Seiten erntete sie zustimmendes Nicken und ich spürte, wie auch mein Kopf sich wie von selbst bewegte, um der geheimnisvollen Dame recht zu geben. Denn das wollte ich unbedingt, obwohl ich gar nicht wusste, was sie gemeint hatte. Es war, als habe sie einen Zauber über uns geworfen. Natürlich, wir müssen über die alternative Energiegewinnung sprechen, fand ich, obwohl ich nicht einmal verstand, wie die Dinge momentan funktionierten. Einzig der Großmeister und ein dicker Mann weiter unten am Tisch, dessen dunkles Haar in Strähnen auf seiner Halbglatze klebte, schienen gegen die Magie der Dame immun zu sein.
Fluvius Grindeaut, der anscheinend ein anderes Thema erwartet hatte, hob sogar missbilligend die buschigen Brauen. »Gibt es denn diesbezüglich seit unserem letzten Treffen irgendwelche neuen Erkenntnisse?«
»Nun, Professor Akinori, der kürzlich mit der Erforschung des Nichts beauftragt worden ist, vermutet in der völligen Abwesenheit von Materie rund um die Stadt ein geradezu gigantisches Energiepotenzial«, erklärte die Dame, ließ ihren Blick über die ernsten Gesichter der etwa fünfundzwanzig Verfechter der Freiheit des Schlafes schweifen und zuckte kaum merklich zusammen, als sie mich ganz hinten bei der Tür entdeckte.
»Aber er steht mit seinen Untersuchungen noch ganz am Anfang«, schaltete sich der korpulente Mann mit dem geölten Haar und einer Stimme wie ein knarrender Baum ein. »Wir wissen bisher viel zu wenig.«
»Mir war klar, dass Sie das sagen würden, Suttini«, beschied ihn die Dame. »Aber stellen Sie sich doch nur für einen einzigen Moment vor, was es für uns und die Schlafenden bedeuten würde, wenn Professor Akinori mit seiner Vermutung richtigläge. Keines Menschen Seele bräuchte mehr dort unten in den Minen zu schuften oder an den Hochöfen zu stehen, um die Dunkle Materie zu Dunkler Energie einzuschmelzen. Mit einem Schlag läge das, wofür wir so lange schon kämpfen, in greifbarer Nähe: Die Schlafenden könnten frei sein, auch in dieser Welt.«
»Möglicherweise«, sagte Suttini. »Aber selbst wenn es so
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