Stadt aus Trug und Schatten
mehr oder weniger brauchbaren Klamotten (ich hatte ja zum Glück alle Kassenbons) außerdem die Gewissheit, dass nicht mein gesamtes Leben in den letzten Tagen aus den Fugen geraten war.
»Und du willst ernsthaft schon wieder Stolz und Vorurteil sehen?«, fragte Wiebke.
Wir saßen zusammen mit Linus und einer Schüssel Salzbrezeln auf ihrer Schlafcouch und begutachteten ihre DVD-Sammlung, die wir auf dem Boden vor uns ausgebreitet hatten.
Ich zuckte mit den Achseln. »Ich darf aussuchen. Das war der Deal«, erklärte ich. »Und ich mag den Film eben.«
»Aber du hast ihn schon hundertmal gesehen«, seufzte Linus. »Und wir mit dir. Ich kann mittlerweile jeden Dialog auswendig. Das ist doch krank.«
»So war es abgemacht. Dafür durfte deine Schwester mir einen Minirock andrehen«, sagte ich, stand auf und öffnete das Laufwerk des DVD-Players. »Stolz und Vorurteil, das ist mein letztes Wort.«
»Na gut«, sagte Wiebke, während ihrem Bruder hörbar die Luft wegblieb.
»Nee, ohne mich. Das stehe ich nicht noch mal durch. Echt nicht«, stammelte er. Das Menü erschien und mit dem Einsetzen der Titelmusik (zu der ich mich verträumt im Takt wiegte) gab Linus auf. Er schleppte sich aus dem Zimmer, als leide er grausame Schmerzen. Dabei murmelte er irgendwas von Mädchenkacke und Irrenhaus.
Wiebke und ich grinsten uns an. Einen Moment lang ließen wir die DVD noch laufen. Dann tauschten wir sie gegen den zweiten Teil von Der Herr der Ringe aus. In letzter Zeit war es zunehmend schwierig geworden, Linus loszuwerden.
»Er will dich zurück«, hatte Wiebke mir erklärt. »Er versteht nicht, dass es aus ist.«
Dabei hatten wir schon mehrere klärende Gespräche geführt, doch was ich auch sagte, schien wie Wasser von ihm abzuperlen. Egal, wie oft ich beteuerte, dass es mit uns nichts werden konnte, jetzt nicht und auch später nicht, es schien einfach nicht zu ihm durchzudringen. Einmal hatte ich ihm sogar gestanden, dass ich mir rückblickend sicher war, die Beziehung mit ihm vor allem deshalb eingegangen zu sein, weil man das eben so machte, weil einen Freund zu haben dazugehörte. Ich mochte ihn, ja. Sehr sogar. Aber echte Liebe war es eben doch nicht gewesen, das hatte ich schnell gemerkt.
Doch Linus wollte es anscheinend nicht verstehen und die Aussicht auf einen DVD-Abend mit seiner Schwester und mir hatte ihn in ein solches Entzücken versetzt, dass wir quasi keine andere Wahl gehabt hatten, als zu einem fiesen Trick zu greifen.
Gemein, aber erfolgreich.
Nun gehörte der Abend uns Mädels. Und das schlechte Gewissen war schnell vergessen. Wir machten es uns bequem und waren schon bald in eine Diskussion über Schauspieler und Kostüme vertieft, unsere Lieblingsbeschäftigung beim Fernsehen. Irgendwann begannen wir außerdem damit, uns bessere Dialoge für die einzelnen Szenen auszudenken, und als ich Gimli nach einer Hautcreme fragen ließ, wäre Wiebke vor Lachen beinahe vom Bett gefallen. Im Grunde sah alles nach einem ruhigen Abend in bester Wiebke-Flora-Manier aus: wir beide, ein Berg von Süßigkeiten, ein guter Film und außer denen auf der Leinwand kein Junge weit und breit. Letzteres änderte sich jedoch schlagartig gegen kurz nach zehn. Auf dem Bildschirm tobte gerade die Schlacht um Helms Klamm, als mich plötzlich etwas zusammenzucken ließ. Mein Atem beschleunigte sich und mein Herz pochte, als stünde es kurz vor einem Infarkt.
»Hey, das war doch nur ein Ork«, meinte Wiebke und bemerkte nicht, dass ich mir längst nicht mehr die Schlacht ansah, sondern auf eine Stelle neben dem Fernseher starrte.
»Hallo«, sagte Marians Schatten, der flackernd vor Wiebkes Bücherregal aus dem Boden gewachsen war. »Ich hole dich ab. Können wir dann los?«
»Was? Verschwinde«, zischte ich und wedelte mit beiden Händen durch die Luft, als wäre er ein lästiges Insekt, das es zu verscheuchen galt. Doch Marian zuckte nicht einmal mit der Wimper.
»Wie bitte?« Wiebke drückte die Pause-Taste. »Sorry, ich war grad so in den Film und Viggo Mortensen vertieft. Hast du was gesagt?«
»Wir treffen uns in einer Viertelstunde draußen. Ich warte auf dich«, sagte Marians Schatten, wobei er jedes Wort einzeln betonte und eine Miene aufsetzte, die keine Widerrede duldete. Anscheinend war er wütend. Stinkwütend sogar, so fest ballte er die Fäuste.
Ich hob verständnislos eine Augenbraue und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte ich zu Wiebke und ihm und ließ mich betont langsam tiefer in die Kissen
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